Wolken über Eberstadt
Wenn ich an Eberstadt denke, dann denke ich sicherlich nicht zuerst an die Kirche. Oder auch nicht an das Gemeindehaus, um diese Aufzählung vollständig zu machen. Es mag andere geben, die das tun – ich auf jeden Fall nicht.
Ich habe in meinem Kopf eine Landkarte von Eberstadt, auf der ich all jene Orte eingetragen habe, die mir viel bedeuten. Oder die mir wenig bedeuten. Scheinbar erinnert man diejenigen Dinge, die einen langweilen, am wenigsten; sie bleiben weiße Flecken auf der Landkarte der Erinnerung.
Eberstadt ist nicht mein Geburtsort, mein Vater hat mich samt Mutter bis Jugenheim gefahren, damit ich dort im Kreiskrankenhaus das Licht der Welt erblicke. Zumindest glaube ich das, weil es meine Eltern mir immer erzählt haben. Erinnern daran kann ich mich natürlich nicht. Getauft worden bin ich in Eberstadts "alter Kirche" – auf einer Sanddüne, wie mein Bruder mir einmal erklärte. Nun, irgendwie fand ich es im Nachhinein passend, dass mein religiöser Start ins Leben im wahrsten Sinne des Lebens auf Sand gebaut war.
Meine Eltern (ich vermute mal stark: meine Mutter) sandten mich in den Kindergarten der Christuskirchengemeinde. Ich gebe zu, ich habe eine Menge guter Erinnerungen daran. Meine beste Erinnerung an den Kindergarten ist aber das gemeinsame Aufbauen einer zimmergroßen Holzeisenbahn, irgendwann mit zwanzig Jahren oder so. Ich hatte einen meiner alten Grundschulfreunde wiedergetroffen, und wir bauten am Gemeindefest, ungestört von der um uns herum brandenden Veranstaltung, eine riesengroße Holzeisenbahn quer durch den Raum. Abgebaut haben wir sie nicht, wie ich zugeben muss. Ich nehme an, dass die Tat inzwischen verjährt sein dürfte. Das andere Ereignis ist ein Kuss im Garten des Kindergartens, aber dies soll mein Geheimnis bleiben. Diesen Schleier müssen sie mir schon lassen – ich lüfte ihn doch nur, damit sie kurz einen Einblick auf meine Eberstadtkarte tun können, und ich werde ihn wieder senken, wenn ich es will. Oder vielleicht sollte ich von einem Visier sprechen?
Wie auch immer. Die Grundschule habe ich in Eberstadt hinter mich gebracht. Sowohl gute Lehrerinnen (keine Namen! keine Namen!) als auch schlechte Lehrerinnen, das scheint der Gang der Dinge zu sein. Begeisternd fand ich es, dass wir in der vierten Klasse wegen Raummangel von der Andersenschule zum Teil in die Gutenbergschule ausgelagert wurden. Dies machte es mir Jahre später relativ einfach, in der Gutenbergschule das Jugendhaus "Zigarrnkiste" zu finden. Mit denen schaffte ich es dann, einen weiteren Ort meines Aufwachsens zu beeindrucken. Wir stellten uns vor das Kino "Orion" und verteilten Flugblätter gegen den Film "Die rote Flut". Aus heutiger Sicht kaum verständlich; in Videotheken können literarische Analphabeten jeden Film leihen, und das Streikstehen vor Kinos dürfte heute kaum noch Effekt haben.
Zur fünften Klasse wurde ich dann ins Exil geschickt. Eberstadt erträgt kein eigenes Gymnasium, und bei der Wahl der Schule kann man als Eberstädter eigentlich nur die Himmelsrichtung wählen. Mich lockte das Kreuz des Südens und der Baumbestand des Schuldorfs, und so durfte ich von der fünften bis zur dreizehnten Klasse dort die Schulbank drücken. Dies brachte mir – rein eberstadttechnisch betrachtet – eine Menge Erfahrungen in Bezug auf die Abfahrtszeiten der Elle (von Elektrischer, wenn ich die Wortableitung richtig gedeutet habe) und auf das Kinoprogramm des "Orion" Kinos, vor dessen Werbefenster ich jeden Morgen stand. Nun, das brachte mir Meisterwerke wie "Scanners" und einige platzende Gehirne, alle Filme der "Planet der Affen"-Serie und diverse schlechte Horrorfilme aus den Fünfzigern. Gebildet hat es mich nicht, aber irgendwie kam ich um fünfundzwanzig Folgen "Eis am Stiel" und diverse Karate-Filme herum. Wahrscheinlich liegt dies an einer tiefersitzenden Abscheu gegen alles, was nicht mit Science Fiction oder Fantasy zu tun hat.
Doch ich wollte eigentlich über Eberstadt schreiben. Das Haus meiner Eltern liegt ganz malerisch, mit wenigen Schritten ist man nicht nur bei der Mülltonne, sondern auch im Wald. Nicht, daß ich wirklich oft im Wald gewesen wäre. Nach der Erkundung durch Füße und später Fahrrad war der Wald abgehakt, um nur noch einmal als romantischer Rückszugsort aufzutauchen; aber ich hätte ja jederzeit in den Wald gehen können. Doch der Bau der B 3 hat meinen Lieblingsplatz im Wald zerstört, und so kann man dorthin nicht mehr fliehen.
Das Einkaufszentrum um die Ecke mit dem Schreibwarenladen, Kiosk und Edeka. Der Weg zum Gemeindehaus. Ich glaube, ich könnte heute noch mit geschlossenen Augen diesen Weg gehen. Die Frage ist natürlich nur, wieweit ich kommen würde. Da ist so eine ärgerliche Garagenwand auf den ersten hundert Metern der Strecke.
Es wird wohl nie geklärt werden, wie oft ich diese Strecke gelaufen bin. Zu oft, wenn ich heute zurückdenke. Vielleicht wäre es für mein Studium heute besser gewesen, wenn ich noch mehr gelesen hätte. Oder vielleicht ist es die Bitterkeit von zu lange gelagertem Sauerkraut in meinen Mundwinkeln, die mich dieses Gebäude zumindest mit einer etwas zwiespältigen Grundstimmung mustern lässt. Viele Stunden habe ich hier verbracht. Erst als Kind in diversen Gruppen, dann irgendwann befördert zum Kindergottesdienstbetreuer. Sogar meine Konfirmation habe ich hier erlebt – wobei ich darauf hinweisen möchte, dass ich bei den Fragen vor der Konfirmation meine Frage natürlich nicht beantworten konnte. War ja irgendwie abzusehen. Später dann interner Aufstieg bis hin zum Gruppenleiter und so weiter und so fort. Vielleicht würde ich heute noch jede Woche eine Gruppe leiten, wenn ich mich nicht in einer großen Streiterei mit allen möglichen Leuten überworfen hätte. Schon damals hatte ich einen Dickkopf, und ich glaube auch heute noch, dass man für die Dinge, an die man glaubt, alles tun sollte. Ärgerlich ist nur, wenn die Leute, die an etwas anderes glauben, mehr Macht haben als man selbst. Irgendwann bin ich dann auf die Backsteinmauer gestoßen, die sich nur noch über Macht definiert und mit Glaubensgrundlagen und Ideologie nichts mehr zu tun hat. Doch ich wollte eine Landkarte schreiben, keine Wandbeschreibung.
Das alte Gemeindehaus ist mir heute noch vertrauter als der "moderne Anbau". Wahrnehmung verändert sich im Laufe der Jahre langsam aber vorsichtig, aber gewisse Orte sind in meinem Gehirn verankert und von dort nicht mehr wegzubekommen, bis das Universum endet. Oder bis ich sterbe. Was auch immer früher passieren mag.
Die Geibelsche Schmiede im Frühjahr. Die Modaupromenade im Herbststurm. Das Cafe Heinz an Weihnachten, mit einem großen Milchkaffee und Kuchen. Die kleine Brücke bei der alten Mühle, in deren Nähe man jetzt eine Waldorfschule besichtigen kann. Nun, immer noch besser als der freie Blick auf die Autobahn.
Ein paar Orte gibt es nicht mehr – der alte Laden vom Hebermehl zum Beispiel. Ich hatte des Öfteren den Eindruck, dass Nägel und Reißzwecken, die bei mir im Zimmer unter Schränke rollen und nie wieder aufzufinden sind, ohne Zeitverzögerung in Hebermehls Verkaufsraum wieder auftauchen. Aufgefallen wäre es niemandem.
Irgendwann bin ich dann weggezogen. Zuhause wohnen verliert seinen Reiz irgendwann, und man sollte geschickt diesen Zeitpunkt nicht verpassen. Sonst bleibt als Alternative nur noch das Werfen von Handgranaten im Hausflur, und das ist eher unbeliebt in den Kreisen von Müttern und Vätern. Und auch Handwerker tun sich dann immer schwer mit der Restaurierung. Zumindest habe ich mir das sagen lassen.
Schon in Eberstadt waren meine Eltern einmal mit mir umgezogen, wobei ich zu meiner Entschuldigung dazu sagen kann, dass ich mich daran nicht erinnern kann. Aber später dann der Umzug von zu Hause weg, daran kann ich mich gut erinnern. Und dann wieder Umzug. Und wieder Umzug. Alles in Darmstadt. Jetzt hat es mich in einen weiteren Vorort verschlagen, nicht ohne den Wunsch, irgendwann mal nach Eberstadt zurückzuziehen. Ich nehme an, dass das Haus, welches mich begeistern könnte, noch gebacken werden muss. Aber ich bleibe voller Hoffnung.
Eberstadt. Ich habe mein Thema schon wieder verlassen. Wie es meine Art ist. Die Welt ist schlecht, nicht wahr. Nun, ich kehre noch einmal zurück nach Eberstadt. Wenn auch nur für einen Schluss.
Irgendwie und aus irgendeinem Grunde habe ich mich aufgerafft, um ein paar Punkte meiner Landkarte zu beleuchten. Das Mysterium bleibt natürlich weiterhin das meine. Gibt es dieses Eberstadt überhaupt? Sage ich ihnen die Wahrheit? Glaube ich meinen Eltern über die Punkte meiner Biographie, an die ich mich nicht erinnern kann, aus Bequemlichkeit oder aus Überzeugung? Belüge ich sie, weil ich in Wirklichkeit in Leverkusen aufgewachsen bin? Oder sage ich dies nur, damit sie keine Nachfragen stellen? Fragen sie lieber ihren Cousin (mütterlicherseits, das wäre passender) nach den verschwiegenen Details. Der sagt ihnen mehr dazu als ich.
Wenn ich mal berühmt bin, erscheinen Bilder vom alten Eberstadt in bunten Illustrierten. Das wäre dann der Beweis, dass immerhin irgendjemand meinen Geschichten glaubt. Aber irgendwie bin ich davon überzeugt, dass ich nie berühmt werde. Denn das – und nur das – würde die Bilder meines Eberstadts aus Publikationen heraushalten, die in meinen Erinnerungen überhaupt nichts verloren haben.
Aber wenn mir gar nichts bleibt, wenn ganz Eberstadt endlich zugebaut ist; keine Weide, kein Strauch mehr mit dem in Übereinstimmung zu bringen ist, an das ich mich erinnere, dann kann ich mich nur noch hinlegen und träumen. Und dieses Eberstadt, das, von dem ich träume, ist viel schöner als das echte Eberstadt. Denn immerhin ist das Eberstadt meiner Träume frei von andauernden Baustellen und Autoverkehr. Und dort gibt es immer gekühlte Getränke. Aber ich brauche nicht nur träumen. Eigentlich ist das echte Eberstadt ganz schön. Will heißen, dass es mir eigentlich ganz gut gefällt. Ehrlich.
Und wenn sie mir nicht glauben, dann gehen sie in den großen Garten des Kindergartens. Legen sie sich auf den Rücken und zählen sie die wunderschönen Wolken. Die Wolken über Eberstadt.