Harry, fahr schon mal den Drachen vor

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Harry, fahr schon mal den Drachen vor
oder
Die Leser, die Welt & "Harry Potter und der Stein der Weisen"

Über das Phänomen "Harry Potter" zu schreiben heißt Eulen (sic) nach Athen tragen. Man könnte jetzt lange darüber fabulieren, wie toll sich die Bücher verkaufen, wie grässlich die meisten Merchandising-Produkte sind etc. pp. Aber eigentlich wollte ich mir das sparen. Meine Frage war viel eher: Wie sieht die Welt aus, die in "Harry Potter und der Stein der Weisen" beschrieben wird? Und woher rührt die Faszination, die der Band (und seine Folgebände) auslösen?
Eine wichtige Vorbedingung für die Welt von Harry ist die Existenz von Magie. Die Welt der magisch begabten Wesen ist von der Welt der Muggel (Menschen, die der Magie nicht fähig sind) geschieden. Hat diese Existenz einer neuen Art von Wesen aber eine Auswirkung auf das Aussehen der Welt, oder ist die Potter-Erde mit unserer Erde identisch? Wie sieht es in anderen Bereichen aus, z.B. bei der Technik. Und: was ist das Phantastische, wo liegt die Fantasy bei Potter? Diese Fragen will ich im Folgenden zu beantworten versuchen.

a.) Die Potter-Erde
Über die Geographie der Potter-Erde ist wenig bekannt; die meisten erwähnten Orte liegen in Großbritannien. Im Buch genannt werden Großbritannien[1] und die Länder England[2] und Wales[3]. An Landschaften und Orten gibt es mindestens Kent[4], Surrey[5], die Hebriden[6] und Godric’s Hollow[7], Little Whinging[8], Cokeworth[9] und London[10].
Andere Länder werden durch dort lebende Tiere erwähnt – der deutsche Schwarzwald[11], Rumänien[12], Griechenland[13], Irland[14], Norwegen[15], Brasilien[16] und der Kontinent Afrika[17].
Die Potter-Erde könnte also mit unserer Erde identisch sein, was das Lesen der Romane sicherlich einfacher macht. Ein Kinderbuch, welches in Großbritannien spielt, kann sicherlich mit einer Welt auskommen, die Europa und Nordafrika umfasst – solange nicht ausdrücklich erwähnt wird, dass es z.B. kein Australien gibt.
Einen kleinen Wermutstropfen hat diese Sicht – das Quidditch-Weltmeisterschaftsspiel von 1473[18]. Gab es, bevor die ganze Welt entdeckt wurde, schon eine Weltmeisterschaft? Hier gibt es keinen einfachen Lösungsansatz und wir schieben es vielleicht besser anstatt auf eine magische Erkundung der Erde lieber auf eine gewisse anglo-amerikanische Marotte, Landesmeisterschaften gerne als Weltmeisterschaften zu tarnen ...
Die Potter-Erde scheint aber unsere Erde zu sein, mit einer – verständlichen – Zentrierung auf Großbritannien. Die Faszination des Romans kann sich aber daraus nicht erklären, denn mehr als ein phantastisches Kinderbuch spielt vor einem ähnlichen Hintergrund.

b.) Die Potter-Technik
Technische Gegenstände, überhaupt Hinweise auf die technische Entwicklung der Potter-Erde, werden nur langsam in die Handlung eingeführt. Erwähnt werden – neben Gegenständen wie Autos und Fernsehern, die im ganzen "realistischen TeilW (vulgo: Dursley-Teil) der Handlung präsent sind – nur einzelne Dinge wie z.B. Straßenlaternen[19], Motorräder[20], die Stadt London inklusive U-Bahn, Rolltreppen, Kinos und Schnellimbissen[21]. Von dieser Beschreibung aus könnte man problemlos davon ausgehen, dass der Roman in der erzählerischen Gegenwart spielt: Großbritannien in den 1990ern.
Ähnlich sieht es für die "magische Seite" aus. Technische Errungenschaften in der magischen Welt sind oftmals eigenartig, jedoch auf den ersten Blick äußerlich nicht von unserer Technik zu unterscheiden. Erst der zweite Blick enthüllt die "magische Welt":
"Dumbledore zog eine goldene Uhr aus der Tasche und gab ein langes Schniefen von sich. Es war eine sehr merkwürdige Uhr. Sie hatte zwölf Zeiger, aber keine Ziffern; stattdessen drehten sich kleine Planeten in ihrem Rund."[22]
Auch die Dampflok, die den Zug nach Hogwarts zieht, ist eigenartig (und in der untypischen Farbe scharlachrot gehalten ...).[23]
Aber diese technischen Beweise sprechen eher dafür, dass die magische Welt der Potter-Erde über die selben technischen Errungenschaften verfügt wie unsere Welt. Sie werden aber nicht genutzt, was der magischen Welt eine wahrscheinlich gewünschte "viktorianische Note" gibt.
Die Potter-Erde befindet sich also technisch in der Gegenwart bzw. der Erzählgegenwart von Frau Rowling. Auch hier kann die Faszination des Romans nicht liegen, denn ein ähnlicher technischer Hintergrund fällt mir für diverse phantastische Kinderbücher ein.

c.) "Potters phantastisches Panoptikum"
Die Potter-Erde wird von einer Vielzahl magischer Wesen bevölkert. Ich habe versucht, diese Wesen zu klassifizieren, um den Überblick zu erleichtern.

I.) Menschen mit besonderen Eigenschaften bzw. sehr menschenähnliche Wesen
• Geister[24]
• Menschen mit Schweineschwanz[25]
• Menschen, die sich in Katzen verwandeln können[26]
• Vampire[27]
• Zombies[28]
Wenigstens zwei der fünf Wesen (Beispiel 2 und 3) entstehen durch Verzauberungen. Beispiel 4 und 5 werden im Roman zwar zitiert, tauchen aber selbst nicht in der Handlung auf. Nur die Geister spielen im Roman eine größere Rolle. Aber sie gehören zum Standardszenario des modernen Märchens und sind daher als in der Handlung auftauchende Wesen keine echte Überraschung.

II.) Tiere mit besonderen Eigenschaften
• Eulen, die Nachrichten herumtragen
• Schlangen, die eine eigene Sprache sprechen[29]
Beide Beispiel sind Wesen, bei denen aus der Handlung nicht sicher wird, ob es sich um Ausnahmen handelt, oder ob alle Wesen dieser Gattung über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen – es fällt uns Muggels aber nicht auf, weil wir z.B. die Sprache der Schlangen nicht verstehen können.
Sprechende Tiere oder Tiere mit menschlichen Zügen sind auch aus Märchen & Legenden bekannt, daher wirken sie in der Handlung nicht überraschend.

III.) Magische Kreaturen
• Drachen[30]
• Einhörner[31]
• Gargoylen[32]
• Gorgonen[33]
• Greife[34]
• Hund, dreiköpfig[35]
• Kobolde[36]
• Phönixe[37]
• Riesen[38]
• Trolle[39]
• Werwölfe[40]
• Zentauren[41]
An diesem Panoptikum lässt sich anschaulich zeigen, was J. K. Rowling in ihrem Roman mit dem Mythenmaterial macht. Sie vermischt gekonnt verschiedene europäische Mythen und Pantheons miteinander. So stammen z.B. Gorgonen, Greife, der dreiköpfige Hund, Phönix und Zentaur aus der griechischen Sagenwelt, Riesen, Trolle und Werwölfe aus der nordischen Sagenwelt. Einige bekannte Wesen aus diesen Sagenwelten tauchen nicht auf, z.B. die Zwerge. Rowling mischt aus vorhandenen Mythologien eine neue Mythologie zusammen, ohne auf die Vollständigkeit einzelner verwendeter Mythologien Rücksicht zu nehmen.
Und diese Mythologie versieht sie mit etwas, das wir in Meisterschaft bei Tolkien beobachten können: sie schafft nicht nur eine Gruppe von Magiern oder eine bestimmte Ansammlung von magischen Wesen, sie erschafft eine ganze Welt.

d.) Fazit
Nicht nur in der Unterteilung zwischen Muggeln und Nicht-Muggeln, nicht nur in der Erfindung einer magischen Schule sehen wir, dass Rowlings Horizont weiter ist als der Horizont der Erschaffung eines Hintergrundes für ein Kinderbuch. Die Serie um Harry Potter war von Anfang auf sieben Bände geplant – und die Autorin behauptete von Anfang an, die Geschichte für alle sieben Bände wäre schon in ihrem Kopf.
Ich will dem ungern widersprechen, schon gar, weil sie sich die Möglichkeiten jeder Form der Fortsetzung offen lässt. Nur zweimal im ganzen Roman verlässt sie die erzählerische Gegenwart. Im zweiten Fall geht es um Nicolas Flamel, der mit seiner Frau zusammen sterben wird, wenn das mit Hilfe des Stein der Weisen hergestellte Elixier alle ist.[42] Im anderen Fall geht es um den einzigen erzählerischen Rückblick von einem in der Handlungszukunft liegenden Punkt auf die Erzählzeit des Romans:
"Auch in den folgenden Jahren blieb es für Harry immer ein Rätsel, wie er es geschafft hatte, die Jahresabschlussprüfung zu überstehen, wo er doch jeden Moment damit rechnete, Voldemort könnte hereinplatzen."[43]
Von dieser einen Ausnahme abgesehen spielt der ganze Roman in der Erzählgegenwart, umspannt die ganze Zeit von Harrys Ablieferung bei den Dursleys bis zum Ende seines ersten Schuljahres in Hogwarts.
Und das ist es vielleicht auch, was Rowling erreichen wollte – und erreicht hat. Ein Roman, der eine Geschichte erzählt. Eine schöne Geschichte, eine traurige Geschichte, eine magische Geschichte. Aber er erzählt diese Geschichte nicht nur als farbenprächtiges Panoptikum, das im Ende in wilden Farben explodiert und als Feuerwerk der Erzählkunst in unserem Gedächtnis verbleibt – um nach wenigen Tagen zu verblassen. Sondern sie erzählt den Roman als Ausschnitt einer längeren (eben sieben Bände umfassenden) Erzählung, die zusätzlich Verweise und Querverweise auf eine Welt bietet, die voller Geheimnisse steckt. Wie konnte Harry Voldemort besiegen? Wer ist Dädalus Diggel[44]? Wer ist Hengis von Woodcroft[45]? Was war der Aufstand von Elfrich dem Eiligen[46]?

Rowling verwendet die Geographie und Technik unserer Gegenwart mit den für ein phantastisches Kinderbuch erlaubten Verfremdungen (die sich trotzdem sehr im Rahmen halten). Sie übernimmt Wesen aus den Mythen Europas, ohne eine eigene Kreation den Kreaturen hinzuzufügen. Um Kritik gleich im Keim zu ersticken: Muggel etc. sind keine neuen Wesen, sondern nur neue Begrifflichkeiten.
Rowling verlässt sich auf mehr oder weniger bekanntes Terrain, um ihre Geschichte zu erzählen. Und das gelingt ihr. Wir als Leser wären eher überrascht über das Auftauchen von Laserschwertern oder magischen Kängurus in einer magischen Schule in England – die Magie wird von ihr vorsichtig geschaffen; Rowling überspannt den Bogen nicht und lässt magische Ereignisse und Veränderungen langsam in die Handlung einfließen, um mehr und mehr eine im Kern phantastische Geschichte zu erzählen.
Harry Potter in "Harry Potter und der Stein der Weisen" ist ein normaler Mensch, der auf einmal besondere Gaben an sich entdeckt. Er wird aus seiner beschaulichen Welt gerissen, hinein in eine Welt der Magie und Wunder. Und das ist es doch, was wir uns alle wünschen – die reale Welt entpuppt sich als nur auf den ersten Blick wahre Wahrheit, und wir entdecken phantastische Strukturen, die hinter dieser realen Welt liegen. Der erste Satz des Buches ist hierfür Programm:
"Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg 4 waren stolz darauf, ganz und ganz normal zu sein, sehr stolz sogar."[47]
So ist dieses Buch auch ein wenig ein (wenn auch magischer) Entwicklungsroman – das normale Kind in uns allen liebt Harry, weil Harry das leben kann, was wir uns alle wünschen. Irgendwie waren wir als Kinder alle mal im Ligusterweg 4, und irgendwie würden wir alle gern mal einen Drachen sehen.
Irgendwie. Irgendwann. Irgendwo.

Verwendete Primärliteratur
Rowling, Joanne K. "Harry Potter and the Philosopher’s Stone", London, 1997 (TB-Ausgabe)
Rowling, Joanne K. "Harry Potter und der Stein der Weisen", Hamburg, 1998
Rowling, Joanne K. "Harry Potter und der Feuerkelch", Hamburg, 2000




  1. "Harry Potter und der Stein der Weisen", S. 251 (Im Folgenden als "Stein" zitiert.)
  2. England wird bei der Aufstellung von Quidditch-Mannschaften als eigenes Land genannt ("Stein", S. 187).
  3. "Stein", S. 252
  4. "Stein", S. 11
  5. "Stein", S. 41
  6. "Stein", S. 252
  7. "Stein", S. 17
  8. "Stein", S. 41 – der Ort von Harrys "Elternhaus" im Ligusterweg.
  9. "Stein", S. 50
  10. "Stein", S. 71 ff.
  11. "Stein", S. 80; in "Harry Potter and the Philosopher’s Stone", S. 55 (im Folgenden als "Stone" zitiert) eindeutig als "Black Forest" benannt. Der Zusammenhang mit Deutschland stellt sich im Buch jedoch nicht her, er muss gefolgert werden.
  12. "Stein", S. 119
  13. "Stein", S. 210 – hier ist es nicht ein Wesen, sondern ein Mann, der Hagrid seinen Hund "Fluffy" verkauft. "Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen ..."
  14. "Stein", S. 251
  15. "Stein", S. 255
  16. "Stein", S. 34
  17. "Stein", S. 119
  18. "Stein", S. 199
  19. "Stein", S. 14
  20. "Stein", S. 20
  21. "Stein", S. 76 f.
  22. "Stein", S. 18
  23. "Stein", S. 104
  24. "Stein", S. 128 und S. 136 f. Zu Poltergeistern als Untergruppe der Geister siehe "Stein", S. 142. Ich erlaube mir, das Herumgeistern als "besondere Eigenschaft" von Menschen zu klassifizieren.
  25. Dudley nach seiner Verzauberung durch Hagrid ... ("Stein", S. 68)
  26. Vgl. "Stein", S. 6 und S. 14
  27. "Stein", S. 79 f. – ich verstehe Vampirismus als eine erworbene Eigenschaft und nicht als Ernährungsgewohnheit einer von der Menschheit geschiedenen Rasse.
  28. "Stein", S. 148. Auch hier gilt, dass ein Überleben nach dem Tod als "besondere Eigenschaft" gewertet wird.
  29. "Stein", S. 34 f.
  30. "Stein", passim. Besonders S. 251 ff.
  31. "Stein", S. 91
  32. Die deutsche Übersetzung als "schluchzende Wasserspeier" ("Stein", S. 62) ignoriert nicht nur die Alliteration in "Gulpin‘ gargoyles" ("Stone", S. 45), sondern übersieht auch, dass "Gargoylen" – dank amerikanischer Trickfilmserien – inzwischen ein auch im deutschen verständlicher Name für eine Art Monster ist (im englischen sind Hagrids "Gulpin‘ gargoyles" ["Stone", S. 45] ein passender Kommentar zu den "Gallopin‘ Gorgons" (s.o.)].
  33. Als Fluch in "galoppierende Gorgonen" ("Stein", S. 60, im englischen "Gallopin‘ Gorgons" ["Stone", S. 43]).
  34. "Stein", S. 190
  35. "Stein", S. 177
  36. "Stein", S. 72. Zum Aussehen siehe "Stein", S. 81
  37. "Stein", S. 94
  38. Obwohl erst in späteren Bänden klar wird, dass es sich bei Hagrid wirklich um einen (Halb-)Riesen handelt, bezeichnet Harry Hagrid bei ihrem ersten Treffen als "Riese" ("Stein", S. 54; zur Hagrids Herkunft siehe "Harry Potter und der Feuerkelch", passim).
  39. "Stein", S. 190 f. Zu Bergtrollen speziell siehe "Stein", S. 196.
  40. "Stein", S. 271
  41. "Stein", S. 275
  42. "Stein", S. 322 f. – und selbst hier könnte man argumentieren, dass es kein Ausblick in die Handlung nach "Stein" ist, sondern eine reine Schlussfolgerung aus bekannten Tatsachen.
  43. "Stein", S. 285
  44. Vgl. "Stein", S. 15
  45. Vgl. "Stein", S. 115
  46. Vgl. "Stein", S. 286
  47. "Stein", S. 5