Hurli Harard, der hurtige Held aus Holmstedt, und Uller, der unbotmäßige Unhold aus Uppsala – ein Mythos im Wandel der Zeiten

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Vorbemerkung[1]
Herzlich willkommen zum Abschlussvortrag im Proseminar zur "Kurt-Oertel-Sommerakademie" 2315. Wir haben versucht, uns im Rahmen der Vorbereitungen mental in jenes 21. Jahrhundert zu begeben, das den Menschen heute als das "düstere Jahrhundert" bekannt ist.
Damals waren die Menschen auf einfache Utensilien angewiesen, um ihre Vorträge "an den Mann" zu bringen. Daher reduzieren wir heute die technischen Möglichkeiten adäquat auf jene der damaligen Zeit in den Anfangsjahren der heidnisch-nordischen Renaissance – ein Referent, ein Flipchart und ein paar Eddings müssen ausreichen, um ein Gefühl für jene Epoche zu vermitteln.
Eines muss im Vorfeld klar und eindeutig gesagt sein: Religion und Magie sind größere "Felder" als das, was unsere Erfahrung abdecken kann. Dieser Vortrag kann also nur versuchen, einen Teil der Erfahrungen abzudecken, aber nie den Anspruch erheben, alles anzureißen (oder gar zu erklären). Selbst heute, nach über 300 Jahren Beschäftigung mit den Grundlagen der Magie und der Erkenntnis, dass die ganze Welt von Magie durchflutet wird, würde kein Magier, der etwas auf sich hält, behaupten, er könnte alles erklären.
Kommen wir nun zum inhaltlichen Teil. Bitte behalten Sie im Gedächtnis, dass wir uns mental im frühen 21. Jahrhundert befinden, wenn es um die Diskussionen des magischen Weltbilds geht.

Die fünf Möglichkeiten des magischen Weltbilds
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man mit einem magischen Weltbild umgehen kann. Prinzipiell sind das folgende fünf Verfahren:
1. Rekonstruieren
2. Ignorieren
3. Imitieren/Kopieren
4. Adaptieren
5. Initiieren

Stellen wir uns eine Zeitleiste vor, auf der die Zeit als Linie von links nach rechts dargestellt wird (siehe Illu 1).

Illu 1

Hierbei ist das Mittelalter stellvertretend für eine Epoche zu sehen, in der Heiden noch Heiden sein konnten, in jedem finsteren Wald ein Drache hauste und Magie funktionierte. Man möge diesen etwas blauäugigen Ansatz verzeihen, aber so oder so ähnlich haben Heiden im frühen 21. Jahrhundert die heidnische Vergangenheit wahrgenommen und diskutiert.

Rekonstruieren

Illu 2

Beim Ansatz des Rekonstruierens wird nun versucht, die Erfahrungen aus dem Mittelalter, die mittelalterliche Weltsicht und die Einstellung zur Magie "nachzubauen", eben zu re-konstruieren (siehe Illu 2).

Ignorieren Beim Ansatz des Ignorierens geht man davon aus, dass die Zeitleiste nicht existiert. Es findet im Bewusstsein des Anwenders keine Veränderung seit dem Mittelalter statt; die Zeit und ihre Umstände bleiben gleich, ebenso die Gesellschaftsform, die Sprache und alle anderen Rahmenbedingungen. In einer Grafik sähe das so aus (siehe Illu 3).

Illu 3


Imitieren/Kopieren
Die Idee des Imitierens/Kopierens wiederum versucht, die Zeitumstände des Mittelalters wiederzugeben, um sie erneut heraufzubeschwören. Im 21. Jahrhundert war das weit verbreitet: Man zieht sich entsprechende Kleidung an, spricht einen eigenartigen Dialekt (gerne als "Marktsprech" verhöhnt: "Werter Kunde, darf ich Euch itzo Anhänger präsentieren. Er kostet Euch auch nur dreißig Dublonen und ist aus edelstem Metalle gefertigt!") und ernährt sich am liebsten von Fladenbroten und Met.
Die Grafik sähe folgendermaßen aus (siehe Illu 4):

Illu 4


Adaptieren
Versuche, die Vergangenheit zu adaptieren, gehen davon aus, dass man die Zeitumstände für jede neue Periode verstehen muss, um zu erkennen, wie ein magisches Bild in das Weltbild eingepasst war. Die Grafik sähe folgendermaßen aus (siehe Illu 5):

Illu 5


Initiieren
Die letzte Methode ist die des Initiierens. Man ignoriert einfach die (mystische und oft überhöhte) Vergangenheit und schafft eine magische Weltsicht im Hier und Jetzt. Dies hat den Vorteil, dass man aktuelle Zeitumstände verarbeiten kann, ignoriert aber gerne die Verhaftung in historischen Zusammenhängen. In meiner Darstellung sähe dies wie folgt aus (siehe Illu 6):

Illu 6


Die Struktur der Queste
Die Suche nach magischer Erkenntnis folgt der Struktur einer Queste. Hierbei ist das Ziel der Queste immer Verständnis und Erleuchtung.
Die Queste folgt einem vorgegebenen Verlauf, der in allen Questen kaum verändert wird. Dieser Verlauf ist Start – Reise – Ort samt Rätsel – Reise – Ort samt Kampf – Konflikt – Rettung – Erkenntnis – Rückreise – Ankunft am Start/Ziel.
Aus der Queste erhält man eine grundlegende Erkenntnis als Ergebnis: nur Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen retten einen. Ein Ort in der Queste ist immer die Möglichkeit für einen Ritus zum Erlangen von Erkenntnis bzw. die Hilfe durch einen Ritus. In der Queste erfolgt Rettung gerne durch göttliche Eingriffe (auch gerne in Form eines "deux ex machina"). Am Ende der Queste kehrt man gewachsen und verändert heim, obwohl dieser Ort nicht mehr derselbe ist, weil man sich selbst verändert hat ("Man kann den selben Fluss nicht zwei Mal überqueren."). Die am Ende gewonnene Erkenntnis ist die Erkenntnis der Bedeutung von Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen. Die Selbstveränderung initiiert Veränderungen an der Umwelt.
Da heute sicherlich jeder aus der Schulzeit das im 22. Jahrhundert wiederentdeckte nordische Epos „Hurli Harard, der hurtige Held aus Holmstedt, und Uller, der unbotmäßige Unhold aus Uppsala“ kennt, wollen wir die fünf Ansätze kurz an diesem Epos und seiner grundlegenden Queste durchspielen. Rekonstruieren Die Fragen, die beim Rekonstruieren gestellt werden, beschäftigen sich weniger mit der Botschaft des Mythos, sondern mit seinen Rahmenbedingungen. Dann werden Fragen gestellt wie „Wo lag Holmstedt?“ oder „Wer waren Ullers Eltern?“, wissenschaftliche Symposien diskutieren Fragen wie „Der Unhold Uller und Parallelen zu finnischen Quellen zur Kalevala“. Dieser Ansatz ist aus Bibelarbeit bekannt, wo Jesus in historischen Zusammenhängen dargestellt wurde, die dann ellenlang diskutiert und gedeutet wurden. Ignorieren Hier ist die Vorgehensweise einfach: Man ignoriert sämtliche gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des Epos, Fortschritte in der Wissenschaft und/oder gesellschaftliche Entwicklungen. Beispiele sind die aus dem 21. Jahrhundert bekannten Mittelaltergruppen (Schlagwort: „Re-Enactment“), die Amish und Teile des Islam im 21. Jahrhundert. „Gott will es“, und darum ist es heute genauso richtig wie im Jahre 35, 625 oder 2012 unserer Zeitrechnung. Imitieren/kopieren Ohne Zwischenschritte wird hier der Originalmythos direkt in die Gegenwart versetzt. Der Epos hieße dann vielleicht für einen Magier des späten 21. Jahrhunderts „Kurt Koertel, der kundige Kieser aus Kiel und Uwe Uhrenhufer, der urige Urwaldbewohner“. Es findet (um ein „neudeutsches“ Wort zu verwenden) ein „reboot“ des alten Mythos statt, der damit direkt von der Ursprungszeit in die Gegenwart versetzt wird. Adaptieren Die Adaption unterteilt die Kopie in eine Vielzahl von Zwischenschritten, der Mythos wird in einem Zyklus immer neu interpretiert und für die Gegenwart „gewonnen“; jede Generation/ Kohorte adaptiert den Mythos für sich. Motor einer solchen Adaption sind Mysterienspiele, Wallfahrten, Initiationsriten, dabei erfolgt eine vorsichtige Modernisierung der Rahmenbedingungen. Ein Beispiel für eine solche Adaption ist die Wirkungsgeschichte des Judentums. Ein anderes Beispiel ist die christliche Mär vom Teilen von Brot und Fisch durch Jesus. Während hier ursprünglich von einer klima- und kulturgerechten Teigware und einem haltbar gemachten, für die örtlichen Gewässer typischen Fisch die Rede war, wird dieses biblische Gleichnis in jeder anderen Kultur mit den dort bekannten Brot- und Fischsorten visualisiert, das Gleichnis damit adaptiert. 32 – Hurli Harard, der hurtige Held Initiieren Hier geht es um Extraktion der wichtigsten Punkte (meist sind dies die Grundlagen der Queste), dann erfolgt ein tatsächlicher Neustart. In der Anfangsphase entwickeln solche Gruppen (wegen ihrer leicht verständlichen Terminologie) eine große Zugkraft, die aber erlischt, wenn die anfänglichen Träger der Bewegung („Gründer“, „Propheten“ etc.) verstorben sind bzw. die Bewegung verlassen haben. Beispiele wären die „Church of All Worlds“ im 20. Jahrhundert oder die „Neo-Phlogistonisten“ im 22. Jahrhundert. Ist die Rekonstruktion einer vergangenen Epoche realistisch? Zwischen Selbst und Umwelt liegen die Sinne als Wahrnehmungskorridor. Dieser Wahrnehmungskorridor wird durch verschiedenste Dinge beeinflusst. Drei Aspekte möchte ich kurz herausgreifen. Der erste Aspekt ist die Rolle von Selbst, Bewusstsein und Sinnen für unseren Wahrnehmungskorridor. Der zweite Aspekt ist das „Sonderthema“ der Sprache, der dritte (und größte) Aspekt ist der Einfluss der Umwelt, genauer der Gesellschaft („Umwelt I“) und der Welt („Umwelt II“). Selbst, Bewusstsein, Sinne Das Thema Selbst ist schwierig zu besprechen, da hier der „Abgrund der Zeit“ die schlimmsten Vermittlungsschwierigkeiten aufbaut. Im frühen 21. Jahrhundert wurde dieses Thema immer wieder diskutiert: Wie verändert sich das Verhältnis zum „Leib“ im Lauf der Zeit? Wie verhält sich das mit der Nahrung – hat nicht zum Beispiel die Einfuhr der Kartoffel nach Europa unsere Nahrung völlig verändert, was ist mit dem Verschwinden bekannter Nahrungsmittel und der Saison-übergreifenden Erreichbarkeit von Nahrungsmitteln, die eigentlich an bestimmte Jahreszeiten gebunden waren? Wie gehen wir mit Schmerz, Krankheit und Tod um? Wie sieht es mit der Unversehrtheit des Körpers aus? Wie stehen Heiden zu Verstümmelungen? In den 1970ern war es noch selbstverständlich, dass Kriegsopfer (Einbeinige, Einarmige, Blinde) das Straßenbild prägten. Hat ihr „Verschwinden“ nicht auch die Gesellschaft geprägt – und wie sieht es mit dem Umgang mit Sterbenden oder Behinderten aus, die wir aus der Gesellschaft „herausnehmen“ und in bestimmten Institutionen „verwahren“? Wie geht man mit Tätowierungen und Narben aus, wie mit Implantaten? Hat sich durch HIV nicht das Blut-Tabu wieder verstärkt – wer leistet im 21. Jahrhundert noch einen Blutschwur oder schließt Blutsbruderschaft? Wie sieht es mit den Veränderungen durch Implantate (Herzschrittmacher), Ersatzteile (Hüftgelenke) oder Depot-Medikamente aus? Verändert sich die Sicht auf das Selbst und die daraus und darauf wirkende Magie dabei nicht grundsätzlich? Wie verändert sich unsere Wahrnehmung von Bewusstsein durch die Veränderung dessen, was wir als gesund betrachten? Früher waren Geisteskranke Teil der Gesellschaft, einige Gesellschaften akzeptierten sie als besonders von den Göttern geschlagen oder gezeichnet. Wir schließen sie weg – was sagt das über die Gesellschaft aus? Wie gehen wir damit um, dass die weit zugänglichen Medikamente und Drogen natürlich auch die Psyche verändern? Wie hat die Einführung der Psychologie die Wahrnehmung von Bewusstsein verändert? Gab es ein Über-Ich, bevor Freud es fand? Und unsere Sinne haben einen Wandel durchlebt. Wir sehen Farben, ohne zu erkennen, dass die Grenzen von Farben zu anderen Farben nicht naturwissenschaftlich, sondern gesellschaftlich gezogen werden (wie auch die Bedeutung von Farben, z.B. dem Schwarz oder Weiß für Trauer). Hat sich unser Hören nicht Hurli Harard, der hurtige Held – 33 dadurch verändert, dass wir andauernd und überall kommunizieren können und die Stille verlernt haben? Hat sich unser Schmecken nicht durch starke Einflüsse wie Schokolade oder Tabak völlig verändert? Wie verändert sich unser Riechen dadurch, dass Menschen inzwischen (meist) gewaschen und sauber sind, so dass wir Körpergerüche nur noch wahrnehmen, wenn sie „störend“ sind (und ab wann sind sie das?). Hat sich unser Fühlen nicht verändert, weil wir klimatisierte Räumlichkeiten gewöhnt sind, in denen wir nicht frieren? Und damit habe ich unsere Gefühle noch nicht angesprochen, die natürlich auch einem Wandel unterzogen sind – oder? Wie vergleichen wir „Liebe“ im 11. Jahrhundert mit „Liebe“ im 16. Jahrhundert oder „Liebe“ im 21. Jahrhundert? Sonderthema: Sprache (Auch hier die Erinnerung: Wir betrachten die Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts!) Sprache ist ein Sonderthema, weil sie uns so selbstverständlich ist, ohne dass wir über ihre Möglichkeiten und Grenzen nachdenken. Wie sieht es mit dem Kontext von Aussagen aus? Können wir Anspielungen überhaupt noch verstehen, die in früheren Jahrhunderten Bedeutung hatten, diese aber verloren? Verstehen wir Wortspiele auf frühere Herrscher oder damals aktuelle politische Entwicklungen? Wie wirkt sich der Wortverlust aus? Früher kannten alle die Begriffe für die verschiedenen Farben von Pferden (Falbe, Fuchs, Brauner, Schimmel, Schecke etc.) – diese Begriffe sind aus dem täglichen Sprachgebrauch ebenso verschwunden wie landwirtschaftliche Begriffe (Egge) oder berufliche Fachworte (wie in der Druckersprache die Begriffe Hurenkind und Schusterjunge). Die Schulbildung erzeugt einen Kanon von zitierbarer Literatur, die Gesellschaft einen Kanon an zitierbaren Symbolen. Und eine Alterskolonne wird durch gemeinsame Erinnerungen an Filme und Musik geprägt, die schon für einen Erwachsenen des 21. Jahrhunderts gegenüber seinen Eltern oder seinen Kindern eine unüberbrückbare Distanz erzeugt. Wie ist es mit Wörtern, die gleich klingen, aber unterschiedliche Bedeutungen haben („Teekessel“ genannt) – oder Wörtern, die früher gleich klangen, sich aber auseinanderentwickelt habe (im Englischen z.B. „horse“ und „whores“ oder die Unterscheidung vom lateinischen „lingua“ in Sprache und Zunge im Deutschen). Wenn sich im 19. Jahrhundert drei Heiden am Genfer See trafen, dann sprachen sie französisch und bezogen sich auf antike Mythen, wenn sie über Magie sprachen. Wenn sich im 21. Jahrhundert drei Heiden am Genfer See trafen, dann sprachen sie englisch und bezogen sich auf „Star Trek“. Die Konnotationen, welche bekannte Filme erzeugen, sind in einer Gesellschaft mannigfaltig, aber über die Zeit schwer übersetzbar (man denke nur an den Übersetzungsfehler von „May the Force be with you“ aus „Star Wars“ in „Möge der 4. Mai mit dir sein!“). Wird die Leseerfahrung nicht dadurch geprägt, dass ab dem 21. Jahrhundert das Buch immer mehr gegenüber einer nebulösen „Cloud“ zurückgeht, die sich „irgendwo“ im Internet befindet? Wer früher seinem Kind seine eigenen alten Kinderbücher schenkte, gibt der ihm dann Hinweise auf den Speicherplatz der Werke? „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“2 Bildung und Kultur, Medien und Umgang beeinflussen Sprache, Sprachentwicklung und Sprachbenutzung. In einer magischen Tradition, die viele Dinge benennen muss, um sie zu beherrschen (erinnern Sie sich: das 21. Jahrhundert war von „Magie, nur mit den Händen“ noch weit entfernt), ist die Sprache der Zugang zur Magie. Wenn man zulässt, dass die Quelle versiegt, aus der die Sprache fließt, 2 Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logica-philosphicus“, Abschnitt 7 34 – Hurli Harard, der hurtige Held dann wird man nicht nur durstig, sondern kann die Zunge irgendwann nicht mehr nutzen. Gesellschaft (Umwelt I) und Welt (Umwelt II) Unsere Distanz zu einer heidnischen Hochzeit3 in der Vergangenheit umfasst (vom 21. Jahrhundert aus betrachtet) diverse Jahrhunderte. Es ist nur möglich, ein paar Aspekte anzureißen; ein Gesamtüberblick würde den Rahmen dieses Vortrags sicher sprengen. Um zu zeigen, welche Bereiche nicht angesprochen werden, weil uns die Zeit dafür fehlt, sei die Rolle der Familie genannt. Nicht nur, dass sich die Familie völlig verändert hat (durch eine erhöhte Lebenserwartung und weniger Kinder), auch die Begrifflichkeiten haben sich verändert (wer weiß heute noch, wer die Muhme ist?). Wir nehmen die Zeit völlig anders wahr. Wir sind durch Uhren und Kalender in einen künstlichen Jahreskreis eingebunden, der sich von Aussaat und Ernte entfernt hat. Unsere höhere Lebenserwartung erweitert unseren Zeithorizont; im frühen 21. Jahrhundert war es für einen Jugendlichen möglich, einen Zeitzeugen der Zeit um 1920 kennenzulernen, der selbst über seine Erfahrungen berichten konnte. In früheren Jahrhunderten war dies undenkbar. Und die Symbole haben sich in ihrer Bedeutung geändert. Erst die Möglichkeit der bequemen Reproduzierbarkeit von Symbolen durch Druckmaschinen machte sie zu einem kopierbaren Massenphänomen. Und die tiefen Spuren, welche die Nationalsozialisten auf vielen heidnischen Symbolen hinterlassen haben, machten viele Symbole für Heiden „unbenutzbar“, weil diese Symbole „verschmutzt“ waren. Unter dem Begriff „Umwelt I“ verstehe ich den Komplex aus Wohnen und Arbeit; aber diese sind nicht unbeeinflusst von sozialen Bezügen. 3 Die Hochzeit, nicht die Hochzeit! Wir wohnen völlig anders als vor 100 Jahren. Es gibt Toiletten, fließend Wasser und Bäder. Es gibt Aufzüge und Kinderzimmer. Es gibt ein Recht auf eine eigene Wohnung als geschützten Raum. Und unser Verständnis von Arbeit ist völlig anders geworden. Nach einer (beinahe) Vollbeschäftigung in den 1980ern folgt eine (wenn auch kaschierte) Massenarbeitslosigkeit im frühen 21. Jahrhundert, verbunden mit einem Verlust der Kaufkraft und einem Verlust des Selbstwertgefühls. Die Arbeit wurde entmenschlicht; kaum noch kann jemand fertige Dinge produzieren, sondern er ist an die Produktion von Zwischenschritten gekoppelt, die ihn vom fertigen Produkt entfremden. Die sozialen Bezüge haben sich geändert. Ich bin schon auf Behinderungen und Krankheiten eingegangen, aber darüber hinaus unterscheiden sich unsere Erfahrungen im Umgang mit fundamentalen Dingen wie Alter und Hunger völlig von denen der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration. Die lange Friedensphase, die in Westeuropa seit 1945 herrscht, hat Kriegserfahrungen (zum Glück) aus unserem Erfahrungsschatz getilgt. Wie nehmen wir Geschlechter wahr? Es gibt im 21. Jahrhundert keine Kastraten mehr, aber die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich lässt inzwischen viele neue Zwischentöne zu, sowohl in der körperlichen Form als auch in der Ausgestaltung der eigenen Sexualität. Die Gender-Diskussion, die dadurch erfolgte Veränderung der Sprache („Heid_innen“) und das Recht auf allgemeine Gleichbehandlung haben die Gesellschaft nachhaltig geändert. Wie stehen wir zu Fortpflanzung und Fruchtbarkeit? Die „Kinderarmut“ des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts ist mit keiner anderen Ära zu vergleichen, warum soll sie nicht unsere Wahrnehmung verändert haben? Wie steht man als Heide zur Politik? Ist die Ethik der Aufklärung verweht, wo ist der Hurli Harard, der hurtige Held – 35 Kommunismus hin, der doch mit einem solch magischen Pathos begonnen hat („Es geht ein Gespenst um in Europa“). Wie steht man zu Liberalismus und Humanismus, die doch (zumindest im 19. Jahrhundert) Grundpfeiler einer magischen Renaissance waren? Und wie geht man im 21. Jahrhundert mit dem Schreckgespenst des Islamismus um, das wie in der Zeit des Kalten Kriegs bei den „Roten Horden“ ein Bild projiziert, was von der Wahrheit weit entfernt ist? Unter der Bezeichnung „Umwelt II“ möchte ich mich kurz mit der Welt beschäftigen. Unsere Wahrnehmung der Erde hat sich durch die (ausgesprochen ungenauen) geografischen Karten verändert, die eine erklärt subjektive Wahrnehmung der Welt durch eine aufgepfropfte objektive Sicht zu verändern drohen. Dabei leben wir doch mit mentalen Karten, die uns die Entfernung anzeigen. In einer Gesellschaft, in der man nur zu Fuß gehen konnte, war die Umgebung in konzentrischen Kreisen organisiert, abhängig von der Reisegeschwindigkeit und der erreichbaren Entfernung an einem, zwei oder mehr Tagen (nur gehindert durch Hindernisse oder eine sinnvolle Wegwahl erweitert). Heute haben wir mentale Karten, die – „dank“ Auto und Flugzeug – die Strecke zu einem Ort nahe des Flughafens in Athen oder Moskau leichter und schneller machen als die zu Fuß in die hintersten Ecken des übernächsten Waldes oder per Autobahn über die Alpen. Wir nehmen Landschaft nicht mehr wahr, sondern durchfahren sie nur, können keine Karten mehr lesen sondern vertrauen (trotz aller gegenteiligen Hinweise) dem Navigationsgerät. Und wir haben die Landschaft massiv verändert – durch Tunnel und Gleise, durch Brücken und Kanäle, durch Hausbau und Abholzung. Die Welt ist in Mitteleuropa vom Menschen dermaßen geformt, dass eine „urwüchsige Landschaft“ im Menschen Angst weckt, weil er sie nicht kennt (und auch nicht kennen kann, weil sie in seinem Leben nicht stattfindet). Wo ist der Sternenhimmel hin verschwunden, den die städtische Beleuchtung auslöscht? Was wurde aus der Erde als dem Zentrum des Universums nach der Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes? Wie verändert die Nähe zu Amerika oder Australien, die Einbeziehung von Hawaii in unseren Kulturkreis die Wahrnehmung der Welt? Was veränderte sich, als die letzten weißen Flecken am Pol und im Herzen Afrikas von den Karten verschwanden? Wenn man an das 20. Jahrhundert erinnert, dann erinnert man daran, dass der Mond auf einmal in die Reichweite der Menschheit geriet – und dass Pluto erst im 20. Jahrhundert als neuer Planet entdeckt wurde, um dann seinen Status im 21. Jahrhundert zu verlieren. Die „final frontier“ verschob sich in den Weltraum, und dort blieb sie. Hat die Einstein‘sche Formel „E=mc²“ nicht unsere Einstellung zu Reisen, zu Distanz und Geschwindigkeit verändert, ist das Schlagwort von der Lichtmauer nicht dafür zuständig, dass wir begriffen haben, dass der erreichbare Raum immer begrenzt bleiben wird? Ist unser Verständnis von der Erde als einem Class M-Planeten in einem Nebenarm einer unbedeutenden Galaxis nicht ursächlich daran schuld, dass wir uns als Spezies im Gesamtplan des Universums nicht mehr als so wichtig sehen? Erzeugt die subtrahierende Lösung, die vom Universum die Plätze abzieht, wo Gott sicher nicht ist, weil Menschen ihn dort nicht gefunden haben, nicht dafür zuständig, dass wir Gott minimieren, ihm Restplätze zuweisen, anstatt ihn überall wirken zu lassen? Lokale oder an eine Ethnie gebundene Götter haben Verkündungsprobleme, denn die Grenzen von Räumen oder Ethnien werden immer durchlässiger, immer unzuverlässiger, wo sich Geografie und Genetik weiter entwickelt haben. 36 – Hurli Harard, der hurtige Held Passend zur christlichen Verkündung lag Jerusalem auf alten Karten im Zentrum der Welt, im Zentrum der drei Weltgegenden Afrika, Asien und Europa. Die drei Könige, die sich vor Jesu verbeugten, waren auch die drei Kontinente mit einem schwarzen, einem weißen und einem semitischen König. Wir haben dieses Bild verloren und können die Ikonografie nicht mehr lesen. Können wir ohne Vermittlung einen Menschen des 12. Jahrhunderts verstehen? Nein. Aber eine Antwort können wir dank C. S. Lewis und „Perelandra“ geben, nämlich die Antwort auf die Frage, ob die christliche Schöpfung samt Sündenfall auf anderen Planeten auch stattgefunden hat. Für Lewis sind wir die Bewohner des schweigenden Sterns, der als einziger nicht in der Schöpfung singt. Manchmal liest man aus den Science Fiction-Büchern und -Filmen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts den Wunsch der Menschen heraus, im Weltraum nicht allein zu sein – um doch immer wieder enttäuscht zu werden. Folgerungen Ich will im Folgenden versuchen, die Folgen der eben gemachten Überlegungen auf die fünf geschilderten Ansätze zu übertragen (wobei ich letztmalig darauf hinweise, dass wir den Geisteszustand eines Menschen des frühen 21. Jahrhunderts zu simulieren versuchen). Rekonstruieren Dieser Ansatz ist eigentlich unmöglich. Nur Menschen wie die Zeugen Jehovas versuchen das noch, wenn sie Gottesnamen rekonstruieren (und das wohl falsch); oder die Christen, die Zebaoth anrufen, ohne zu wissen, was sie tun. Leider hatten Teile des aktiven Heidentums im 20. Jahrhundert Ansätze, sich in diese Richtung zu entwickeln; erst das all-heidnische Konzil 2025 hat hier klare Beschlüsse fassen können. Ignorieren Dies ist möglich, aber nicht lustig. Man verzichte auf eine Impfung, lässt sich die Zähne nicht mehr machen und verfalle in eine Sprache, von der man sicher sein kann, dass sie nicht ausdrücken kann, was man ausdrücken will (dies ist etwa so, als wollte man mit dem Wortschatz des klassischen Latein bei einer PC-Hotline anrufen). Und der Staat … der Staat baut einem die Straßen, er kümmert sich um Schulen und Krankenhäuser. Viele religiöse Gruppen, die diesem Ignorieren-Ansatz folgen, müssen auch den Staat ignorieren, um in sich selbst glaubhaft zu bleiben. Da verzichtet man dann lieber auf Krankenhausaufenthalte für Kinder als auf den vermeintlichen Segen Gottes – und wenn die Kinder dann sterben, dann war es Gottes Wille (und nicht menschliche Dummheit). Imitieren/Kopieren, Adaptieren Dies scheitert oft an der nicht gegebenen zeitlichen Lückenlosigkeit. Der Islam versucht, eine geschlossene historische Kette zu produzieren, vernichtet aber selbst „häretische“ Werke aus seiner Frühzeit. Das Christentum pocht (im Katholizismus) auf die Liste der Päpste oder insgesamt auf die Priestersukzession, die aber an mehreren Stellen in der Geschichte Lücken aufweist, durch die man eine Kathedrale schieben könnte. In Deutschland wäre das eventuell noch machbar, wenn man heidnische Traditionen beleben will; hier ist eine große Lücke durch die Werke von Grimm & Konsorten überbrückt worden. Aber im 21. Jahrhundert muss man hier (wegen der Nationalsozialisten) aus vergifteten Quellen trinken. Die Glut ist noch vorhanden, aber das Werk ist mühsam. Initiieren Dies wäre Neustart ohne Bilder, ein Neustart ohne Erinnerungen. Das ist machbar, aber nicht gewollt. Hurli Harard, der hurtige Held – 37 Schlussüberlegungen Ich will versuchen, drei kurze Hinweise zu geben, die ein Zeitgenosse aus dem frühen 21. Jahrhundert auch geben müsste, wenn er über den Mythos im Wandel der Zeiten nachdenkt. Der Mythos gibt Antworten auf grundsätzliche, elementare Fragen. Wir müssen ihm nur zuhören. Die Welt ist laut. Wir werden oft und viel abgelenkt. Das Raunen der Runen aber braucht das Schweigen der Welt. Die Welt ist hell. Wir müssen uns ins Dunkel begeben. Erst dann kommt vielleicht jemand aus

dem Schatten. Manchmal hat er nur ein Auge.
  1. Dieser Vortrag wurde zum Eldathing 2012 gehalten. Er war tatsächlich nicht an ein Manuskript gebunden, sondern entwickelte sich entlang weniger schriftlicher Vorlagen auf einem Flipchart mit drei verschiedenfarbigen Eddings. Manchmal braucht man nicht mehr für einen Vortrag … umso schwieriger war es dann, den gesprochenen und mit wenigen Stichworten "vermerkten" Text in einen Fließtext zu gießen. Mein Dank an Petra Bolte für Textkommentare und "Ordnung".