Sylvester 2009

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Ein Zukunftsbild

„Kannst du mir nicht noch ein Stündchen schenken?“ frage der silberbärtige Greis seinen reisefertig vor ihm stehenden Enkel, einen jungen Mann von etwa 25 Jahren.
Ein weicher Schimmer flog über das energische und offene Gesicht des Jungen bei dieser im bittenden Tone vorgebrachten Frage des alten Herrn.
„Lieber Großvater“, sagte er herzlich, „du weißt, wie gern ich den ganzen Silvesterabend gerade mit dir verplauderte, wie ich noch lieber einige Tage bei dir und im alten Köln verweilen würde. Aber es geht ja nicht, ich muß noch heute abend nach Paris abflattern und habe schon einen nicht unbedeutenden Umweg gemacht, um dir in gewohnter Weise am Silvesterabend Glück zum neuen Jahre zu wünschen. Jedoch ein halbes Stündchen kann ich noch zugeben. Wir nehmen dann nachher hundert Kilometer auf die Stunde und holen so das Versäumte noch möglichst ein.“
„Ich begreife“, sagte der Greis bedächtig, „die Pflicht ruft dich. Die Pariser Einkaufszentrale für Kolonialerzeugnisse wartet gewiß mit einiger Ungeduld auf deinen Bericht über den Stand der Kaffeeplantagen am Nyassa ... Doch“ – unterbrach er sich lebhaft – „du hast mir aber im eiligen Plaudern noch garnichts von Emilie berichtet. Wie geht es deiner Frau, wie bekommt ihr das Klima in Afrika?“
„O, ganz ausgezeichnet. Wir Europäer haben uns im letzten Jahrzehnt derart in Lebensweise, in Wohnung und Kleidung dem Klima anzupassen gewußt, daß wir kaum noch Beschwerden empfinden. Emilie hätte mich sehr gern begleitet, wenn ich meine Reise hierher und zurück vor dem Weihnachtsfeste hätte beenden können. Sie hätte gar zu gern in Europa einige Geschenke eingekauft und eine anregende und kostspielige Rundreise durch Kölner und Pariser Modepaläste angetreten. Trotz Schnellbahnen und Schnelldampfer sieht es nämlich in unsern Geschäftshäusern am See noch etwas dürftig aus hinsichtlich der bessern Gebrauchs- und Luxusartikel. Auf diesem Gebiete behauptet Europa noch so lange seine Ueberlegenheit, bis es gelungen ist, größere Warenmengen billig durch Lastflieger an jeden Punkt unseres Planeten zu befördern.“
„Hoffentlich geschieht das nie und der Himmel bewahrt uns vor einer Erfindung, die schließlich Kohlen- und Lastdampfer in die Lüfte hebt und die Erzeugnisse des Erdballs über den Häuptern der Menschheit hin und her kreuzen läßt.“, sagte der Greis.
„Weshalb denn?“ Der junge Mann fragte so mit einem leichten Lächeln in den Mundwinkeln.
„Setze dich noch einen Augenblick“, bat ernst der Alte. „Nimm noch ein Glas meines Ahrbleicherts, den ich immer noch allem Roten vorziehe, den ihr an den Hängen des Somalerna-Gebirges baut. Ich weiß nicht, ob ich dich noch einmal am Silvesterabend wiedersehe, und so möchte ich dir einmal anvertrauen, was mich sehr oft und heute besonders stark bewegt. Höre deinem alten Großvater ein wenig geduldig zu und laß deine Pariser meinetwegen auch eine Stunde warten. Von einem Flieger, der aus dem Innern Afrikas herankommt, werden sie wohl auch nicht fahrplanmäßige Pünktlichkeit verlangen können.“
Der alte Herr nahm einen tiefen Schluck des Weines und wischte sich bedächtig einige rote Tropfen aus seinem silberweißen Schnurrbarte.
„Ich fürchte, die Menschheit ist auf einem Irrwege mit ihrer Suche nach immer bequemerem und rascherem Transport aller beweglichen Dinge. Sie wird schließlich in keinem Teile der Erde mehr geistig und wirtschaftlich seßhaft. Sie wächst nicht mehr an, läßt immer weniger von Landschaft, Geschichte, Gebrauchstum und Rasse ihrem Denken und Empfinden das feste Gepräge geben, das doch allein einen Charakter schafft. Sie wird in zunehmendem Maße heimatlos, ähnelt einer Horde von Zigeunern, die hin- und herjagt auf dem Planeten, sich an bevorzugten Orten zusammendrängt und dort wild miteinander um Verdienst und Gewinn rauft. Ein Glück ist es noch, daß nur die vom Schicksal bevorzugten Sterblichen, die Großkapitalisten, diese wandernde Horde bilden können. Aber die große Masse derer, die wegen mangelnder Mittel die ungeheure Hinterlegungssumme, welche neben sonstigen Garantien die Vereinigten Staaten Europas und Afrikas für Benutzung eines Fliegers verlangen, nicht aufbringen können und mehr an den Ort gefesselt sind, d.h. noch so viel gefesselt, wie es die alle Welt verbindenden Schnellbahnen erlauben, sie ist auch vom Geiste der Heimatlosigkeit erfaßt. Sie starrt auch nur in die Lüfte, will auch fliegen, auch mühelos von einem Fleck zu andern flattern, statt irgendwo heimatfroh Wurzeln zu treiben.
„Dann bedenke, welch riesenhafter wirtschaftlicher Kampf aller gegen alle entbrennen müßte, wenn die großen kapitalgewaltigen Gesellschaften auch noch den Verkehr mit dem Lastflieger, an dessen Konstruktion man jetzt so fieberhaft arbeitet, monopolisieren würden. Ich fürchte, der europäische Staatenbund, die große Errungenschaft, ginge in die Brüche und wir würden nochmals die Schrecknisse von 1940 erleben.
Der junge Mann machte eine ungläubige Miene und fragte: “Ich glaube, die Möglichkeit solcher Vorkommnisse ist ausgeschlossen. Die Menschheit ist zu vernünftig geworden, um sich nochmals derartig zu zerfleischen. Dann haben ja auch alle Staaten den Fliegerverkehr geregelt und an außerordentlich schwere Bedingungen geknüpft. Sprengstoffe gibt es nur noch in staatlichen Niederlagen, werden nur noch durch die Hand zuverlässiger Beamten im Interesse des öffentlichen Wohles verwendet. Alle Schußwaffen sind abgeschafft, sind längst im alten Eisen verschwunden, so weit sie nicht bei der Jagd und unter schärfster Kontrolle Verwendung finden.“
Der Greis schüttelte das Haupt. „Du hast nicht erfahren, wie der Mensch sich in eine Bestie verwandelt, wenn der Hunger ihn peinigt, wenn Unsicherheit und ständige Todesangst die Feigsten zu wilden Kriegern macht. ich habe erlebt, wie in jenem Schreckensjahr des großen europäischen Krieges die Luftkreuzer über unseren Häuptern explodierten, wie es Dynamit auf wehrlose Ortschaften regnete. Ich habe erlebt, wie schließlich alles zu den Waffen griff, wie wütende Scharen über jedes Luftschiff herfielen, das irgendwo landete, wie man alle Luftschiffhäfen, alle Fabriken für Luftverkehr der Erde gleichmachte und Blut Unzähliger floß. Die Menschheit ist angewiesen auf die Erde, und je fester sie hier in Rassen und Völkern wurzelt, desto besser ist es für sie.
„Du hältst mich für einen alten Schwarzseher, mein lieber Enkel, aber glaube mir, ich spreche auf Grund reichster Erfahrung. Ich habe mir heute einen hundert Jahre alten Zeitungsband hervorgesucht, den Band von 1909. Man ist gerührt, wenn man liest, mit welch‘ unsäglichem Jubel man hier in Köln die Ankunft Zeppelins begrüßte, des ungeheuern Luftkreuzers, dessen Modell heute als eine Reliquie im Museum hängt. Man versteht nicht recht, wie die Menschen dieser Zeit sich so unendlich freuen konnten über die kindlichen Versuche mit Schirm- und Deckfliegern, wie sie damals in Köln stattfanden. Und doch beneidet man die guten Leutchen und ihre Begeisterungsfähigkeit, um ihr glückliches Nichtahnen der Schrecknisse, welche die Entwicklungszeit der Schiffahrt mit lenkbaren Ballons und Fliegern im Gefolge hatte.“
„Jedoch an diese Schrecknisse brauchen wir heute doch nicht mehr zu denken. Wir dürfen uns freuen, daß mit ihnen die Periode europäischer Kriege beendet wurde, wir dürfen stolz sein, daß wir heute eine sichere Luftkutsche besitzen, nachdem es uns gelungen ist, die eigentlich so natürlichen Quellen der Kraft in Fluglinien zu entdecken und sie, dank der Erfindung unserer sinnreichen und federleichten Sammler von tausendpferdigen Kräften auch unsern Luftschiffen einzuflößen.“
„Ach ja“, sagte lächelnd der Alte, „stolz sind wir ja und haben auch Ursache dazu. Aber ob nicht die Kölner, die einst den mittelalterlichen Mauerring ihrer Stadt erweiterten und ihre Gemütstiefe, ihre Poesie und ihre Heimatliebe in wunderbaren Bauten zum Ausdruck brachten, die Schöneres schufen als unsere Allweltsflugtürme, nicht auch stolz waren und dabei viel glücklicher, in sich gefestigter als wir, das ist eine andere Frage.“
„Doch“, setzte er nach einem Blick auf die Uhr hinzu, „ich darf dich nicht länger halten. Du mußt reisen. Bis auf die Plattform begleite ich dich noch.“
Der junge Mann nahm Hut, Ueberrock und die neu gefüllte elegante Mundvorratstasche und schritt vor dem Greis her aus dem Raume. Ein langer Gang führte sie in die elektrisch erleuchtete Halle, in der neben einer Kölner Genossin die Flugkutsche des Afrikaners der Abfahrt harrte.
Der reisefertige Führer zog die, harten Käferflügeln gleichen gewölbten Decken von den auf dem Dache der langgestreckten Kutsche zusammengelegten, aus silberglänzendem, biegsamen Metall, dem wunderbaren Millinium, gefertigten und von einem sinnreichen und gelenkigen Rippenwerk durchsetzten beiden großen Flügeln. Dann schob er die auf den breiten Fußrädern ihrer kurzen umlegbaren Ständer leicht dahinlaufende Maschinerie durch das Hallentor hinaus auf die fahrstuhlartige Plattform des Flugturmes, wohin ihm die beiden Herren folgten.
Ein Druck auf einen in eisernen Boden eingelassenen Metallknopf ließ die Plattform mit ihrer Last sich bis zur Höhe des etwa 30 Meter hohen, starken Turmes heben.
Ein wunderbarer Blick auf das abendliche, von Tausenden großer und kleiner Lichter erleuchtete Köln bot sich hier oben. Lange Doppelreihen strahlender Lichter liefen radienfömig aus dem von den erleuchteten Ringstraßen bezeichneten Halbkreis der Altstadt bis zum fernen Horizont, wo überall die Lichtfunken und Lichter der bis zur Entfernung von zwei bis drei Stunden ausgedehnten Vorstädte schimmerten. Die größte und breiteste Lichterstraße durchschnitt die Altstadt in zwei Hälften, überschritt den dunkelen Strom und lief dann durch Deutz weit hinein ins Bergische Land. Dunkel ragten auf inmitten des Lichtmeeres der Koloß des Domes und die vielen anderen Kirchen der alten Stadt. Dazwischen aber standen, verteilt auf das ganze Weichbild gleich dunkelen, massigen Säulen mit einem Rampenkranz grüner Lichter die Flugtürme der Behörden und der wenigen Mitglieder der staatlich konzessionierten deutschen Fliegergesellschaft.
Der junge Afrikaner und sein Führer warfen kaum einen Blick auf die strahlende Herrlichkeit der Weltstadt, der ihre günstige Lage ein unglaubliches Wachstum und eine einzig in der Weltgeschichte dastehende Entwicklung ermöglicht hatte. Sie ließen die Kraft auf den Mechanismus des Wagens wirken, worauf sich die gewaltigen Flügel ausbreiteten und sich aufwärts schlagfertig stellten. Der Führer schaltete den Scheinwerfer ein, der aus der Höhe der Führerklause, in dem aus gehärteten Glasplatten bestehenden spitzzulaufenden Vorderteil des Fahrzeuges, einen blendend hellen Lichtkegel voraussandte. Dann öffnete er die Tür des elegant eingerichteten Viersitzers und schob die Provianttasche in ihren Behälter.
Der Augenblick der Abreise war da.
„Vergiß den altmodischen Großvater nicht ganz,“ sagte gerührt der Greis, den Enkel umarmend. „Komm bald nochmals wieder und möglichst im Sommer. Du weißt, eine Rheinfahrt und ein nettes Böwlchen ist immer noch eine schöne Sache und kann Zeitgenossen hin und wieder zurückversetzen in die fröhliche Vergangenheit und in die Mitte vergangener Geschlechter. Ich wurzelte nun einmal mehr in der Vergangenheit als in dieser gleichmachenden Gegenwart, und wer weiß, ob du und kommende Geschlechter nicht einmal sich zu meiner altbacken erscheinenden Weisheit bekehren.“
Die Tür des Wagens schloß sich. Der Führer nahm seinen Ledersessel im Vorderraum ein, wo ihm alle Hebel und Griffe zur Hand waren. Einen dieser Griffe zog er mit kräftigem Ruck abwärts, und in demselben Augenblick schoß der Wagen in einem Ruck hinaus von der Plattform in die freie Luft. In demselben Augenblick klappten die vier Ständer auf, die schimmernden Riesenflügel begannen ein gemessenes, majestätisches Schlagen, das den lichtglänzenden Riesenvogel bald am westlichen Horizont immer kleiner werden und dann verschwinden ließ.
Wehmütig sah der alte Herr eine Zeitlang dem entschwindenden Luftfahrzeug nach. Dann stahl sich ein Lächeln über seine Lippen. Als man die Entdeckung hinsichtlich der im Insekten- und Vogelkörper aufgespeicherten Kraftenergie und der Technik ihres Fluges machte, waren zuerst auf dem Kölner Sportplatz Versuche mit einem dem Körper der Wasserjungfrau nachgebildeten Fahrzeug gemacht worden. Der Kölner Volkshumor, der allen Wandel der Zeiten siegreich überdauert, hatte sich bald auch des komischen Vehikels mit den zitternden Flügelpaaren bemächtigt und nannte es die „gekitzelte Libelle“. Ein ehrwürdiges Altkölner Weinhaus griff rasch den Namen auf und brachte ihn in den Rahmen seines Firmenschildes.
Der alte Herr drückte auf den Klingelkopf der Plattform und sank dann langsam mit dieser hinab zum Eingang seines Wohnhauses. Ein guter Gedanke war ihm gekommen. Er wollte den Silvesterabend nicht allein in melancholischem Sinnen verleben. Er wollte hinpilgern zur „Gekitzelten Libelle“ und den Abend fröhlich verbringen im Kreise gleichartiger alter Kölner Knaben.

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