Astrid Lindgren 1907 – 2002

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Selten hat man die Gelegenheit, einen Nachruf auf eine Fantasy-Autoren in „Spiegel“ und „Zeit“ zu lesen. Was? Astrid Lindgren ist keine Fantasy-Autorin? Das ist Quatsch. Nur weil auf vielen ihrer Bücher der Stempel „Kinderbuch“ oder „Jugendbuch“ zu kleben scheint, sagt das nichts darüber aus, welche Themen sie behandelt und ob die Bücher in das hineingehören, was wir ein wenig überheblich als „Kanon der Fantasy-Literatur“ zu betiteln scheinen. Gaschke schreibt sehr richtig: „Gute Kinderbücher sind nicht die Vorstufe zur großen Welt der Literatur, nicht etwa eine kleine, abgeleitete, mindere Form, sondern die Grundlage für jede ästhetische Erfahrung. Kein Nintendo-Spiel, kein Lerncomputer, erst recht keine Teletubbies verbreiten den Glanz, der alles Elend der Welt verschwinden lässt. Das können nur Bücher, und Astrid Lindgrens Bücher besonders gut.“ Dieser Meinung bin ich auch. Viele Bücher Lindgrens sind Fantasy – und wem das nicht passt, der hat nur ein zu enges Verständnis der Fantasy-Literatur. Punkt.
Was das phantastische Panoptikum betrifft, das sie erschaffen hat, kann Lindgren mit den „Größen“ des Golden Age der Fantasy locker mithalten. Wer erinnert sich nicht an Orte wie Bullerbü oder Saltkrokan und an Heldinnen und Helden wie Pippi, Karlsson, Michel, Krümel Löwenherz und Kalle Blomquist? Stehen die nicht Seite an Seite mit Orten wie Narnia oder Magira (ein beabsichtigter Verweis auf das phantastische Land hinter unserem Magazintitel) und Elric, John Carter oder dem Zauberer von Oz?
Und Lindgren hat etwas geschafft, was vielen anderen Autoren nicht vergönnt ist: Sie hat eine Breitenwirkung erzielt, die sich durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten zieht. Bei uns in der Wohnung genießt sie das Privileg, vielleicht nur neben den Brüdern Grimm die Autorin zu sein, die bei jedem im Regal vertreten ist – Kind wie Eltern.

Am 14.11.1907 in der Nähe von Vimmerby geboren starb sie am 28.01.2002 in Stockholm. Mit 18 wurde sie schwanger, heiratete 1931 und schrieb 1944 als Hausfrau ihre ersten beiden Bücher: „Mari erleichtert ihr Herz“ und „Pippi Langstrumpf“. 1990 hörte sie – im Alter von 83 Jahren – mit dem Schreiben auf. Sie hat nie einen Nobelpreis für Literatur erhalten – aber dieses Schicksal teilt sie mit über sechs Milliarden Menschen. Darüber sollte man also keine Träne vergießen.

Astrid Lindgren ist tot, und was bleibt sind ihre zauberhaften Bücher. Meine Erfahrungen mit Lindgren beginnen mit „Ferien auf Saltrokan“ im Fernsehen und Pippi. Ich mochte Pippi in alle drei Erscheinungsformen: in den wunderschönen Filmen, im Hörspiel (dank der tollen Lieder immer wieder ein Genuss) und als Buch. Meine Mutter hat mir die Bücher vorgelesen und allein dafür, dass sie mich an Lindgren herangeführt hat, gebührt ihr Dank.
Was ist Pippi? Anarchie in Ringelsocken würde ich es nennen. Und ich erinnere mich an phantastische Südseeabenteuer mit einer tollen Seeräuberfestung. Das Lied „Seeräuber-Opa Fabian“ weckt in mir heute noch Erinnerungen an schöne Nachmittage mit Pippi-Filmen. Ich habe mir schon vor Jahren erlaubt, in „Abenteuer in Clanthon“ Lindgren und Pippi durch den Seeräuber Fabian ein Denkmal zu setzen.
Finger beschrieb Pippi folgendermaßen: „Im verbotenen Garten der Villa Kunterbunt kann man lernen, was Herzensbildung und ein Hang zum Sophismus ausrichten können, vor allem aber, dass ein Gramm Intelligenz einen Zentner Gelehrsamkeit aufwiegt, wenn es um Weltverbesserung geht, also auf kluges Handeln ankommt und nicht auf gute Noten.“ „Herzensbildung“ – darauf kommt es vielleicht wirklich an. Ihre Bücher sprechen von Themen, die wir sonst als „erwachsen“ kategorisieren: Geburt und Tod, Schicksal und Freundschaft. Doch die besten Kinderbücher sind die, in denen Kinder nicht „verniedlicht“ werden, sondern in denen ihre Sprache getroffen wird. Das hat Lindgren geschafft.
Nach Pippi ging es bei mir mit Lindgren weiter. Der nächste phantastische Titel war „Mio, mein Mio“ über einen Waisenjungen, der in Wirklichkeit ein Prinz ist – ist das nicht ein Traum, den alle Kinder irgendwann einmal haben? Und wie schön dieses Buch endet: „Im Land der Ferne ist er, sage ich. Er ist dort, wo die Silberpappeln rauschen, wo die Feuer in der Nacht leuchten und wärmen, wo es Brot gibt, das Hunger stillt, und wo er seinen Vater, den König, hat, den er sehr liebt und der ihn auch sehr liebt.
Ja, so ist es. Bo Vilhelm Olsson ist im Land der Ferne, und er hat es gut dort, so gut, bei seinem Vater, dem König.“
Das Bild vom „Brot, das Hunger stillt“ gefällt mir noch heute. Und dann gibt es noch „Ronja Räubertochter“. Erst war es der Film, der mich begeistert hat, in zweiter Linie dann das Buch. Eine Reihenfolge, mit der ich leben kann, denn in diesem Fall ist der Film ein Kinderfilm, der einem die Bilder im Kopf nicht vorschreibt, nichts kaputtmacht, was man später beim Lesen des Buches erneut erträumen kann. Vielleicht ist das eine der großen Stärken von Lindgren – ihre Bilder sind so universell, ihre Figuren so breit angelegt, dass sie nicht „eine Lesart“ erzeugen, sondern viele, viele Bilder zulassen, die auch nebeneinander existieren können. Die Pippi im Film sieht anders aus als die Pippi der Innenillustrationen der Bücher und noch ganz anders als die Pippi in meinem Kopf – aber alle diese Pippis sind Spiegelungen der „wahren Pippi“, die es irgendwo in den Weiten der Phantasie zu geben scheint und jede dieser Spiegelungen ist gut und schön.
Und ihr Meisterwerk ist für mich „Die Brüder Löwenherz“. Eine wunderschöne Fantasy-Geschichte, die eine wunderbare Fabel über das Sterben verbirgt. Ich lese Bücher selten mehrmals – hier habe ich eine Ausnahme gemacht. Und ich glaube, dass ich das Buch heute Abend noch einmal durchblättern werde. Und sei es nur, um noch einmal von Rosen zu lesen und von Drachen und von Tieren, die in Flussbetten schlafen.

Was fasziniert uns an Lindgrens Werken? Mankell führt den Erfolg ihrer Werke auf die Erzähltradition zurück, in der Lindgren stand; sie war nicht Schriftstellerin, sondern Erzählerin. „Ihre Worte waren wie Türen; öffnete man sie, wurden die Stimmen dahinter hörbar. Vielleicht wie es vor langer, langer Zeit gewesen war, in ihrer eigenen Kindheit am Anfang des 20. Jahrhunderts. Als die Menschen sich in der Dämmerung versammelten, wenn es zu dunkel war, um zu arbeiten, aber noch zu hell oder zu früh, um zu schlafen; (...) dort fand Astrid Lindgren ihre ganz eigenen Rhythmus, ihre ganz eigene Sprache.“ Und Gaschke stellt Lindgren in eine Traditionslinie, die sich (zumindest in Deutschland) irgendwo zwischen Gripstheater, „Rappelkiste“ und „Sesamstraße“ festzumachen scheint: „Das subversive Versprechen, das Astrid Lindgren ihren Lesern macht, lautet: Triste Verhältnisse lassen sich durch die Macht der Worte überwinden.“ Die „Macht der Worte“: Richtig, es ist das gesprochene Wort, das durch Lindgrens Texte wirkt – sie erzählt, sie schreibt nicht. Viele ihrer Bücher sind ideale Vorlese-Bücher, weil die Sprache sich dem Sprechen anzuschmiegen scheint. Ein armer Wicht, wer Lindgren noch nie vorgelesen bekommen hat! Und ein noch ärmerer Wicht, wer nicht zumindest „Pippi Langstrumpf“ oder „Die Brüder Löwenherz“ gelesen hat.

Astrid Lindgren ist tot. Jetzt kann sie die Schlussworte aus „Die Brüder Löwenherz“ überprüfen: „Ich sehe das Licht!“

Literatur:
Heidkamp, Konrad „In jeder Idylle lebt die Revolte“ in „Die Zeit“ 6/2002
Finger, Evelyn „Pippi Langstrumpf“ in „Die Zeit“ 6/2002
Gaschke, Susanne „Pippi geht von Bord“ in „Die Zeit“ 6/2002
Mankell, Henning „Astrid Lindgren“ in „Der Spiegel“ 6/2002

Auswahlbiographie Astrid Lindgren:
„Die Brüder Löwenherz“
„Mio, mein Mio“
„Pippi in Taka-Tuka-Land“
„Pippi Langstrumpf geht an Bord“
„Pippi Langstrumpf“
„Ronja Räubertochter“

Hintergrundmusik für das Lesen dieses Artikels:
„Hey, Pippi Langstrumpf“ „Die schönsten Lieder aus Astrid Lindgrens Kinderwelt“, Karussell 837 483-2