Castor – Transporter im Kanon

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Viele Serien starten, ohne dass sich die Autoren Gedanken darüber machen, was passiert, wenn man mehr als 10, 20 oder 500 Folgen produziert hat. Niemand rechnet anfangs damit, dass die eigene Serie wirklich zum absoluten Publikumserfolg wird. Dieses Phänomen trifft nicht nur auf Familienserien im Fernsehen, sondern auch auf das Genre der Science Fiction zu. Und hier trifft es PERRY RHODAN (wer rechnete anfangs mit mehr als 50 Heften?) genauso wie »Star Trek« oder »Star Wars«.
Ein weiteres Problem trifft auf, wenn man mit verschiedenen Autoren arbeitet, die ein gemeinsames Universum beschreiben. Nur wenige Autoren sind so sehr in ihrem Universum »gefangen«, dass sie vom ersten Beitrag bis zum letzten Beitrag eindeutig in den gemeinsamen Vorgaben bleiben. Solche Weltentwürfe, die (fast) ohne Widersprüche sind, sind der Zyklus um die »Instrumentalität der Menschheit« von Cordwainer Smith oder »Babylon 5«. Aber hier war es auch ein Autor allein, der die Welt beschrieben hat, und er hat Jahrzehnte gebraucht, um sich das Handlungs-Universum auszumalen.
Noch einmal: PERRY RHODAN war nie dafür geplant, über 2000 Bände zu haben. So ist es verständlich, dass es immer wieder Ereignisse gibt, die bei Überarbeitungen (wie der Veröffentlichung in den Silber-Bänden) geändert oder ausgelassen werden müssen.
Es ist üblich, vor einer Überarbeitung einen Kanon zu schaffen, der festlegt, welche Teile für das Gesamtwerk zwingend notwendig sind. Die christliche Kirche begann schon im zweiten Jahrhundert, einen Kanon der Lehrtexte zu schaffen, während die anderen zu »apokryphen« (das heißt verborgenen) Texten wurden. Bei langlaufende Serien lässt sich das genauso beobachten. Die Überarbeitung der »Geschichte der Zukunft« für die »Star Trek Chronology« ging genauso vor. So wurde die Handlung der beiden Filme »Star Trek V« und »Star Trek VI« größtenteils aus der offiziellen Geschichte entfernt, während eine einzige Folge der Zeichentrickserie (»Yesteryear«) wegen der in ihr enthaltenen wichtigen Informationen über Spocks Kindheit in das Werk aufgenommen wurde.[1]
Im PERRY RHODAN-Universum ist es Rainer Castor, der sich in den letzten Jahren die Arbeit gemacht hat, die verschiedenen offenen Handlungsstränge zu verbinden und Lücken in der Handlung auszufüllen. Er versucht die Integration aller Teile des ausufernden PERRY RHODAN-Universums, um einen Handlungs-Kanon zu erstellen.
Auch sind es seine Daten, welche die Erstellung der »Jahrmillionen-Chronik« von Heiko Langhans erst möglich gemacht haben. Dazu schreibt Langhans:
»1996 schickte mir der damalige Fan und angehende TB-Autor Rainer Castor einen drei Pfund schweren Packen, den er banalisierend das Grobraster nannte. (...) Dabei handelte es sich um mehrere hundert Seiten expose-ähnlichen Hintergrundmaterials für die USA-Taschenbücher von Hans Kneifel (...). Die Pläne von Hans Kneifel und Rainer Castor liefen durchaus auf eine Weiterführung dieses ursprünglich sechsbändigen Zyklus hinaus und reichten im Ansatz bis zum Perry-Jahr 3430, wobei die ersten fünfhundert Jahre bis zum Panitheraufstand detailliert in dem oben erwähnten Grobraster abgedeckt wurden.«[2]
Schon lange ist bekannt, dass die PERRY RHODAN-Serie immer wieder überarbeitet und angepasst wird. Einige Beispiele hierfür finden sich in Hartmut Kaspers Artikel »Robby, ES und Thoregon – die Entwicklung der Superintelligenz im Perry Rhodan-Kosmos«.[3] Kasper spricht von der »Selbstmythologisierung der Serie«.[4] Seine Beschreibung der Castorschen Umbauten an Arkon (eines seiner Lieblingsspielfelder) ist ironisch, aber treffend:
»Vor dem Hintergrund der Scheerschen Urzeugung des Arkonidenimperiums könnte man den Eindruck gewinnen, dieses Sternenreich sei mittlerweile einem ausgeweiteten Wiener Kongress zur Revision vorgelegt, unter Federführung eines Metternich-Klons mit Adelsprädikaten gespickt und nach Maßgabe feudaler Gesellschaftsmodell restauriert worden.«[5]
Ebenso beobachtet dies Rainer Stache in »Der Leser als Maßstab« mit der Kapitelüberschrift »Der Castor-Komplex«:
»Castor will – und gibt vor zu können – möglichst viele historische gewachsene Handlungsstränge miteinander vernetzen. (...)
Alles was war, kann mit solcher Arbeitsweise beliebig zusammengekippt werden. Castor fleddert den PR-Kosmos, ohne ihn fortzuschreiben. Seine Vernetzungen lesen sich wie die LKS-Spekulationen eines 13-Jährigen und bringen die Eleganz des PR-Mythos in Gefahr.«[6]
Diese Kritik zielt aber völlig ins Leere. Aus der Position eines Lesers, der alle PERRY RHODAN- und ATLAN-Heftromane, jedes Taschenbuch, Jubiläumsbände, Comics, Space Thriller, Werkstattbände und so weiter und so fort im Kopf hat und den man nachts wecken und fragen kann, wer den Zellaktivator von Ras Tschubai bekommen hat – aus dieser Sicht ist die Kritik an den Castorschen Vernetzungen berechtigt. Aber der neue Leser, der in die Serie einsteigt, ist dankbar, wenn er in einem Werk wie der »Jahrmillionen-Chronik« nachlesen kann, wie die Geschichte des PERRY RHODAN-Universums verlaufen ist, bevor er bei Band 2203 in die Serie eingestiegen ist. Denn ohne diesen Castor-Kanon, diese Erstellung eines »futuristischen Rückgrats« für die Serie würde die Handlung schnell auseinanderlaufen, das große, gemeinsame aus dem Blickfeld verschwinden. Und mal ehrlich: Wer hat die Zeit, um für einen Einstieg in eine Science Fiction-Serie über 3000 Titel nachzulesen?

Rainer Castor ist nicht der erste, der die Handlung »rafft« – er wird nicht der letzte sein. Und wer mag, der kann gerne weiter in den apokryphen PERRY RHODAN-Texten wühlen. Kann man, muss man aber nicht.


  1. nach Okuda, Denise & Michael »Star Trek Chronology«
  2. Heiko Langhans »Jahrmillionen-Chronik, Band 3«, S. 4
  3. Hartmut Kasper »Robby, ES und Thoregon – die Entwicklung der Superintelligenz im Perry Rhodan-Kosmos« in Klaus Bollhöfener, Klaus Farin & Dirk Spreen (Hrsg.) »Spurensuche im All«
  4. ebenda, S. 107
  5. ebenda
  6. Rainer Stache »Der Leser als Maßstab« in Klaus Bollhöfener, Klaus Farin & Dirk Spreen (Hrsg.) »Spurensuche im All«, S. 145