Der Kurfürst

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Der Kurfürst
Das etwas andere Kurtagebuch

Vorwort
Ich hatte versprochen, ihn zu schreiben. Das Motto sollte sein: "Lieber spät als nie."
Darmstadt, im September 2003

Tag 1
Hätte ich vorher gewusst, was es heißt, eine Kur zu absolvieren – hätte ich es trotzdem gewagt? Ich weiß es nicht. Im Nachhinein schaut man den Papierberg hinunter, den man ohne Atemgerät erklommen hat, und fragt sich zu Recht, wie man da hoch gekommen ist.
Ich habe es geschafft. Und als ich im Zug, bei der Anfahrt auf Wunselstein, die letzten Unterlagen ausfüllte, wurde mir beim Betrachten der Ankreuzfelder und Fragen wieder einmal klar, dass nur diejenigen, die wirkliches Leiden erfahren hatten, auch diese letzte Herausforderung meisterten.
"Welche Krankheiten sind bei Ihnen in der Familie bekannt?" Souverän trug ich "Beulenpest, Cholera, Beri Beri" und viele, viele andere Krankheiten ein, die bei uns in der Familie "bekannt" sind. Okay, keiner meiner Verwandten hat eine dieser Krankheiten – aber wir haben davon gehört. Wer keine klaren Fragen stellen kann, der kriegt auch keine klaren Antworten.
"Sind sie schwanger? Ja Nein Ungewiss" Ruhig, fast zu beherrscht, machte ich mein Kreuzchen bei "Ungewiss", warf dieses letzte Formular in meine Mappe zu seinen Geschwistern und schaute aus dem Fenster, wo die ersten Gipfel der Alpen zu erblicken waren.
Schon beim heimatlichen Blick in die Reiseführer war mir etwas Wichtiges über meinen Kurort klar geworden. Der liebe Gott hatte Wunselstein sicherlich in das bayerische Moor gesetzt, damit es versinken möge. So frei von anti-bayerischen Vorurteilen trat ich meine Reise an.
Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, als ich meine Kur so legen ließ, dass sie am Faschingsdienstag beginnen würde. Bis München verlief die Zugfahrt fast normal – "fast normal" deswegen, weil etwa eine halbe Stunde vor der bayerischen Landeshauptstadt die ersten Karnevalisten den Zug betraten. Besonders apart fand ich die beiden Herren, die sich als Teufel und "Mann mit übler Brandverletzung" verkleidet hatten. Der Teufel sah richtig gut aus – die Hörner waren mit irgendeinem Kosmetikkleber angebracht, so dass eine Halterung nicht sichtbar war. Auch die Brandverletzung war gut geschminkt – wenn es denn Schminke war. Vielleicht waren auch die betrieblichen Fahrtkosten in der Hölle zusammengestrichen worden, und Verstorbene mit langem Sündenregister wurden mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Unterwelt geleitet.
Ab München stieg ich in einen Regionalzug um, der mich nach Wunselstein bringen würde. Nach der Konfrontation mit dem Teufel im Zug war ich nicht wirklich überrascht, als auf dem Bahnsteig meines Zielbahnhofs eine Kindergruppe tobte, die sich als Teufel verkleidet hatte. Scheinbar ist das katholische Bayern gerade in Fastnachtszeiten darum bemüht, seine klerikale Freizügigkeit zu betonen.
Am Bahnhof wurde ich von einem Bus der Klinik abgeholt. Die Wagenfenster waren nicht vergittert, was mir erste Illusionen über meinen Aufenthalt raubte.
Ich meldete mich beim Empfang an. Eine freundliche Schwester nahm mich entgegen und geleitete mich in mein Zimmer. Dort warteten – Überraschung! – schon meine Koffer auf mich, die ich vorgestern mit einem Kurierdienst weggeschickt hatte. Es ist angenehm, wenn man nicht auf die Notunterhose und das Waschzeug im Handgepäck zurückgreifen muss ... und wenn das eigene Gepäck glücklich in Wunselstein statt in Wanselstein in der Tschechei oder Wondelsteen in Australien gelandet ist.
Man erklärte mir auch freundlich, wie man die Telefonkarte mit Geld auflädt (das tat ich, damit ich ab jetzt auch raustelefonieren konnte) und wie man einen Fernseher mietet (hierauf verzichtete ich, da ich die Zeit mit Lesen verbringen wollte).
Dann hatte ich ein kurzes, aber sehr nettes Gespräch mit der Stationsärztin, die mich verschiedene Dinge fragte. Unter anderem wollte sie von mir hören, welche Therapieformen ich mir wünschte. Leider fiel mir außer Massage und Krankengymnastik nichts aufregendes ein – jetzt wäre wahrscheinlich der Zeitpunkt gewesen, wo man Bungeejumping und Paragliding angeben kann. Ich verpasste diesen Punkt. Traurig war ich nur später, als ich erfuhr, dass es eine Volleyballgruppe gegeben hätte. Sie entging mir, weil ich damit beschäftigt war, mir zu überlegen, ob Paragliding jetzt eine passende Antwort wäre.
Zum Mittagessen kam ich dann zu spät. Aber man hatte mir ein Essen aufgehoben, so dass ich nicht verhungern würde. Wie in den osteuropäischen Hotels vor der Öffnung der Mauer darf man sich im Essensraum nicht selbst einen Platz suchen, sondern wird eingewiesen. "You will be seated" hieß es dort immer so schön auf englisch (aber nur deswegen, weil ich kein tschechisch oder polnisch verständen hätte!).
Abends lernte ich dann meine Tischgemeinschaft kennen. Ein Herr Ende 40, der von Beruf – dem Äußeren nach zu schließen – Gemüse- oder Waffenhändler war, eine freundliche Wirtin Ende 50 und eine Dame aus Sachsen, deren Alter ich in der selben Marge angeben würde. Meinen Schock – das Alter meiner Tischnachbarn betreffend – überwand ich leichter als den Schock der Schlange am Abendbuffet. Nein, es war nicht das Essen, das mich verschreckte. Neben dem Buffet stand ein tragbares Radio, und während ich anstand, tönte die "Spider Murphy Gang" aus demselben. Ich hätte noch am Tag vorher bei Gott geschworen, dass kein deutscher Radiosender mehr "Spider Murphy Gang" spielt. Aber ich hätte diesen Schwur unwissentlich ohne Einbeziehung der bayerischen Radiostationen gemacht, deren musikalisches Spektrum sich zwar auf alle Stilrichtungen, aber nur in bayerischer Mundart zu beschränken scheint.
Als ich nach dem Essen noch einen Kaffee in der Cafeteria trinken wollte, musste ich feststellen, dass ich die Cafeteria zwar betreten, aber nicht mehr verlassen konnte. Ein freundlicher Geist gestikulierte von außen hinter der Glastür und zeigte mir, wo innen der Öffnungsmechanismus verborgen war. Okay, man fand ihn unproblematisch, wenn man vor der Tür einfach vier Meter zurückwich und dann den Kopf nach ganz rechts drehte. Ein weißer Schalter auf weißer Wand, über vier Meter von einer Glastür entfernt – cleverer Trick, um die Kunden zum weiteren Konsum an den Automaten zu bewegen!
In späteren Tagen gab ich diese Einführung gerne weiter und verhinderte, dass die Putzkommandos am nächsten Morgen verhungerte Patienten aus der Cafeteria beseitigen mussten. Jede Woche fluten neue Menschen in die Klinik – Gestrandete, die nicht einmal einen festen Platz im Essenssaal haben, vom Schicksal verworfene, die sich nun allein dem Fremden gegenüber sehen – dem fremden Kaffeeautomaten, dem fremden Türöffner ...

Tag 2

Die erste Anwendung fand ich noch problemlos. Scheinbar hatte ich Glück, weil sie nur zwei Treppenhäuser und einen langen Gang vom Essensraum entfernt war. Man gewöhnt sich erst nach einigen Tagen daran, dass die unterirdischen Behandlungsräumlichkeiten in einem sehr unklaren geographischen Verhältnis zu den oberirdischen Räumlichkeiten stehen. Beim Bau der Klinik hat man wahrscheinlich erst mehrere Meter tief das Erdreich beseitigt, um drei unterirdische Stockwerke bauen zu können. Dann baute man die drei oder vier Treppenhäuser als einzige Verbindung zur Oberwelt und schüttete das Erdreich wieder auf. Jetzt konnte man – völlig losgelöst vom unterirdischen Bauplan der Räumlichkeiten – Speisesaal, Unterbringung und ähnliche Räumlichkeiten oberirdisch anordnen.
Alles, was nach Gymnastik und ähnlichen Anwendungen klang, war im Bauch der Erde versteckt. Und ich brauchte wie gesagt Tage, um mich zurechtzufinden.
An diesem Morgen kam das Faktum störend hinzu, dass wir Aschermittwoch schrieben. Die Ausgangszeiten waren für Fastnacht verlängert worden (ja, hier gab es so etwas wie Ausgangszeiten – abends um 23.00 Uhr verlöschen die Lichter in den Gängen und die Nachtschwestern laufen mit Taschenlampen und Elektroschockern Patrouille), und die meisten Patienten sahen an diesem Morgen übernächtigt und restalkoholisiert aus. Schon die Morgengymnastik um 7.00 Uhr war eine echte Herausforderung – diverse Male hatte ich Angst, dass meine Nachbarn sich übergeben würden. Beim Frühstück gossen dann alle Unmengen Kaffee in sich hinein – das führte immerhin dazu, dass den Resttag über die meisten relativ wach aussahen.
Nach dem Frühstück stieg ich in den Keller hinab. Hier hatte ich das besondere Vergnügen, mich meinem ersten Moorbad widmen zu können. Die Einrichtung sah so aus, als wäre sie 1935 eingebaut worden. Später erfuhr ich anhand von alten Katalogen der Klinik, die in einem der Gänge aushingen, dass die unterirdischen Anlagen erst in den 60ern entstanden waren. Ehrlich: So sahen sie nicht aus.
Nachdem ich den Schock durch die Zinkbadewannen und die geschmacklosen Kacheln überstanden hatte, wurde ich gezwungen, unter der Ägide einer Dame, die sich sicherlich als gegnerische Nichtspielerfigur im Computerspiel "Assault on Castle Wolfenstein" gut gemacht hätte, in die brühwarme Tunke zu klettern.
Nach 15 Minuten in dieser Masse, die auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Gulasch und Elefantenkacke aussieht, war ich so kaputt, dass ich mich beim Abduschen mehrmals abstützen musste, um nicht umzufallen. Gierig fiel mein Blick auf das bereitstehende Ruhelager, auf dem ich mich jetzt lang ausstrecken und schlafen wollte. Doch Gerti – wie ich meine ältliche, blonde Pflegerin inzwischen mental liebevoll nannte – hatte anders entschieden. Wegen der heranrauschenden Frühstückspause für Mitarbeiter wurde ich aus dem Keller verjagt.
Draußen lehnte ich mich erst einmal eine Weile gegen die Wand, um nicht ohnmächtig zu werden. Der Service überraschte hier durch perfekte Planung und liebevollen Umgang. Das Moor tat seine Wirkung. Ich taumelte zum Fahrstuhl, überwand meine Klaustrophobie (die Treppe hätte ich nicht mehr geschafft) und fuhr zu meinem Zimmer, um dort für eine Stunde komatös zu schlafen.
Danach lief der restliche Tag etwas an mir vorbei. Ich sah sicherlich jenen Gestalten ähnlich, die am Tag vorher das nette Trinkspielchen "Ex oder Arschloch" gefeiert hatten – nur war es hier das Moorbad, das mir jegliche Lebensenergie entzogen hatte.
Irgendwie schaffte ich es, bis zum Mittagessen noch eine Gruppengymnastik und ein EKG (mit erträglichen Werten) hinter mich zu bringen. Nachmittags hatte ich dann nur noch einen weiteren Arzttermin (bei dem ich fast eingeschlafen wäre) und einen Massagetermin (bei dem ich dann eingeschlafen bin).
Dieser Abend endete nach einem Abendessen frei von "Spider Murphy" mit einem Besuch meines Bettes, während draußen noch die Sonne schien.

Tag 3

Nach einer Krankengymnastik zu nachtschlafender Zeit nahm ich dann morgens – vor dem Frühstück – an der Hausführung teil. Diese Führung sollte eigentlich alle Fragen seitens der Patienten beantworten, und daher bekam man alle wichtigen Räumlichkeiten gezeigt. Natürlich die Behandlungszimmer, die beiden Bewegungsbäder, die Waschmaschine und die Cafeteria. Danach hatte man erste Hinweise darauf, wie man sich im Gebäude zu orientieren hatte, und brauchte keine Angst mehr zu haben, in den Gängen verhungert gefunden zu werden. Trotzdem sah ich immer wieder Leute, die Notrationen mit sich herumschleppten. Ich vermute, dass sie dies taten, um in einem der langen Gänge überleben zu können, bis eine Suchmannschaft aus Schwestern und Ärzten sie finden würde.
Nach der Führung ging ich – wenn auch ein wenig gehetzt – frühstücken, da der nächste Termin schon drängte. Eigentlich zur Erholung hier, stellte ich immer wieder fest, dass mein Tagesablauf erstaunlich dicht mit Terminen gefüllt war.
Meine Atmungsgruppe wurde heute von jemandem angeleitet, den man nur als "kleine braunäugige Hüpfmaus" beschreiben kann. Andauernd in Bewegung, andauernd am hüpfen – und wir sollten dann die Bewegungen mitmachen. Schon einmal versucht, andauernd auf und ab zu springen und dabei intensiv einzuatmen? Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir nicht reihenweise ohnmächtig geworden sind.
Danach konnte ich mich noch schnell umziehen, dann ging es in das Moorbad. Ich schlief sofort ein – erst auf der Liege im Moorbad und dann wenige Minuten später im Bett auf meinem Zimmer. Der Wecker klingelte zwei Stunden später und erinnerte mich daran, dass ich noch zwei Termine vor dem Mittagessen hatte. Der erste war das Anstehen in der langen Schlange, welche aus Leuten bestand, die ihre Zuzahlung für die Kur leisten wollten.
Erst stellt man sich lange vor dem ersten Zimmer an, um dort dann berechnet zu bekommen, was man an Eigenanteil zu zahlen hat. In dem Zimmer saßen zwei Frauen. Die Bezeichnung "Damen" kann ich leider wegen ihres Verhaltens nicht verwenden. Beide unterhielten sich nett miteinander, als ich endlich drankam. Sie schauten nicht auf, sondern nur auf ihren Rechnerbildschirm. "Name?" Ich nannte höflich meinen Namen. "Stimmt das Geburtsdatum soundso?" Ich bejahte. Dann kam ein Ausdruck aus dem Drucker. Diesen reichte die links sitzende Frau an die rechts sitzende Frau, diese streckte ihren Arm in Richtung Tür aus und meinte höflich "Da!". Dann war ich entlassen. Ihre Unterhaltung haben sie nur an den nötigsten Stellen unterbrochen, um mir ihre Fragen zuzuraunzen. Ich hätte auch nackt oder mit einem Ashanti-Speer durch die Brust im Raum stehen können – es wäre ihnen nicht aufgefallen, weil sie mich nicht anschauten.
Dankbar, ihnen entkommen zu sein, verließ ich den Raum und reihte mich in die zweite Schlange ein. Nun dank des Papiers zur Zahlung berechtigt, musste ich jetzt die Zahlung nur noch leisten. Deutschland, was wärest du ohne deine Verwaltung!
Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es nach dieser sinnlosen Verzögerung, meinen Lungenfunktionstest zu erreichen. Ich pustete ins Röhrchen und war dann endlich mit meinem Programm so weit durch, dass ich zum Mittagessen gehen konnte.
Nach dem Essen war wieder ein Jogging durch die Gänge angesagt, um mit Badekleidung rechtzeitig zur Wassergymnastik zu erscheinen. Langsam artete dieser Tag richtig in Stress aus.
Man stelle sich vor: Acht Männer mit Haltungsschäden stehen in einem Schwimmbecken, dessen Wasserspiegel ihnen gerade bis an oder etwas über die Hüften geht. Vorher sollte sich jeder eine "Plastikwurst" holen – eine etwa armdicke Schaumgummischlange von circa einem Meter Länge. Diese Schaumgummischlangen gab es in den Modefarben pissgelb, ekliggrün und augenschmerzenrot. Diese Schlangen sollte man zwischen seinen Beinen hindurchziehen, so dass sie ungefähr in der Mitte saßen. Dann wurden damit mehrere Runden durch das Wasser gedreht.
Jetzt sagt man Männern nach, dass sie gerne etwas Großes zwischen den Beinen haben – aber müssen es bunte Plastikschlangen sein? Es war nicht so prickelnd, wie ich mir das gewünscht hätte. Und man sieht wirklich absolut bescheuert aus, wenn man mit einer wippenden und hin und her schwingenden gelben Plastikschlange zwischen den Beinen durch ein Kinderbecken stapft.
Dankbar war ich dann, als mit diesem Programmpunkt meine aktiven Tätigkeiten für diesen Tag vorbei waren. Jetzt blieben nur noch zwei Vorträge, die ich ertragen sollte, ohne einzuschlafen. Der erste handelte über den Zusammenhang zwischen Krankengymnastik, Kornkreisen und Kronkorken. Zumindest wäre das möglich, weil ich nach dem ersten Satz über Krankengymnastik die Augen nicht mehr aufhalten konnte. Ich habe nicht geschnarcht, aber wohl ein wenig geschlafen. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ich zum zweiten Vortrag dann wach war. Dies war der Zwangsvortrag "Begrüßung", den jeder über sich ergehen lassen musste. Ein Oberarzt pries die Vorzüge Wunselsteins und Bayerns, die Vorzüge des Kuraufenthalts und der ärztlichen Betreuung vor Ort. So stelle ich mir medizinische Kaffeefahrten vor ... Inhaltlich wäre es sicher klüger gewesen, wenn ich im zweiten Vortrag geschlafen hätte, um dafür den ersten zu hören. Aber man kann nicht immer Glück haben.
Wie gerädert wankte ich nach diesem Tag zum Abendessen. Danach wollte ich dann noch einen – wirklich nur einen! – Kaffee in der Cafeteria trinken, bevor ich meine tatsächlich wohlverdiente Nachtruhe antrat. Aber wie das so ist: In der Kur ist man von Leuten umgeben, die ein verstärktes Redeinteresse haben. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass mein Nachbar und ich ins Gespräch kamen. Wenn ich das richtig verstanden habe (und ich war nach den Ereignissen des heutigen Tages rechtschaffen müde und spätestens seit den Gummischlangen der Ansicht, dass ich mich nicht mehr in meiner bekannten Realität befand), dann war er früher Flugzeugentführer. Er hat mit seiner Flugzeugentführung seine Freundin freipressen wollen, die in der Türkei wegen Drogenhandels verurteilt war.
Ich bin ihm in den nächsten Tagen noch mehrere Male in den Gängen begegnet, und er hat mich jedes Mal freundlich gegrüßt. Also kann ich wenigstens nicht ihn oder unser Gespräch halluziniert haben – bei dem Thema bin ich nicht so sicher ...
Aus verständlichen Gründen bin ich danach wie ein Sack Kartoffeln ins Bett gefallen und habe dann traumlos geschlafen.

Tag 4

Der Tagesablauf pendelte sich langsam ein – raus aus dem Bett zu einer obskuren Behandlung vor dem Frühstück (heute: Nemectrodyn, eine Art Mini-Elektroschock für den Rücken), dann Frühstück, Gruppengymnastik "Atmung" (mit "Cher" vom Band – man kann nicht alles haben), danach die Gruppengymnastik auf den wunderschönen Plastikmatten.
Nach dem Mittagessen nutzte ich die Zeit, um einen kurzen Abstecher in den Ort Wunselstein zu machen. Ein verschlafenes Kaff, am Leben erhalten durch Kurgäste und die Arbeit in einer von den Kliniken.
Nach dem Abendessen hatte ich dann Gelegenheit, mir den perfekten Mord zu überlegen. Nein, nicht dass ich ein Ziel gehabt hätte. Aber in der Cafeteria gab es einen Automaten, der verschiedene Süßigkeiten anbot ("M&Ms", "Mars", "Manner-Schnitten", "Prinzenrolle", "Goldbären" und "Colorado"). Man warf einen Euro ein, drückte dann auf den Knopf neben dem entsprechenden Produkt, und dieses drehte sich auf einer waagerechten Scheibe so, dass man durch das Aufdrücken einer nun freigegebenen Tür das Produkt aus dem Fach ziehen konnte.
Mein Plan: Ich nehme meine Pistole (die ich noch irgendwoher auftreiben musste – ich habe ja auch nicht gesagt, dass mein Plan perfekt ist), erschieße in Ruhe jemanden, kaufe einen Schokoladenriegel, nehme ihn heraus, platziere die Pistole in dem Fach, kaufe noch einen Schokoladenriegel, nehme ihn heraus und die Pistole verschwindet in den Tiefen des Süßigkeitenautomaten.
Jetzt konnte ich in aller Ruhe die polizeiliche Untersuchung abwarten, weil weit und breit keine Tatwaffe zu finden war. Danach galt es nur noch, den Automaten zu beseitigen – aber auch die besten Pläne lassen Raum zur Improvisation. So auch dieser.

Tag 5

Wochenende! Das Frühstück begann ganze 30 Minuten später als sonst. Vormittags wanderte ich durch Wunselstein, nach dem Mittagessen zog ich mich zum Lesen und Schreiben zurück und abends ging ich nach einem nicht gerade üppigen Mahl früh ins Bett. Die Landluft, so vermute ich.
Bayern ist ein eigenartiges Land. Die bayerische Sprache ist der Dialekt jener Jäger, die in den Mangrovenwäldern des Pleistozän Wildsauen suchten. Ihre Sprache wurde eine urwüchsige Form des Deutschen, frei von schönen und wohlklingenden Worten.
Dafür ist der Blick vom Dachgarten der Klinik aus fantastisch. Ein wunderschönes Panorama, das sich vor den Alpen (oder Olpen, wie Tucholsky sie gerne nannte) ausbreitete. Nach einigen Tagen konnte ich auch die Namen der Berge aufzählen – Namen wie der große Wunselstein, der Miesepeter, Jägermeister, Brechhöhe und Öppzöller brennen sich in das Gedächtnis ein.

Tag 6
Auch diesen Tag des Wochenendes nutzte ich für ein paar Ausflüge in die nähere Umgebung und für das Nachdenken über die Rahmenbedingungen meiner Kur.
Es mag erstaunlich sein, dass die Kombination von so vielen sexuell aktiven Erwachsenen nicht zu dem führt, was Gerüchte über Dinge wie "Kurschatten" implizieren.
Ein Grund, der trotz Frühling und Entfernung von der Familie die Paarung verhindert, heißt "Sportkleidung". Frauen, die man in Kleidungsstücken a la "Aldi"-Trainingsanzug und "C&A"-Bademantel gesehen hat, führen zumindest bei Männern automatisch zu Hodenschrumpfung und Penisschwund. Ich vermute einmal, dass das andersherum genauso zutrifft. Hier fehlen mir aber die Erfahrungswerte aus meinem geheimen zweiten Leben als weiblicher Kurgast.

Tag 7

Vor der Frühgymnastik gab ich meinen Medikamentenzettel ab – leer, ich kann doch nicht den ganzen Dreck schlucken, den man mir hier eintrichtern will.
Nach der Frühgymnastik (dankenswerterweise die "Beatles", statt "Cher" oder der "Spider Murphy Gang" ...) war es immer noch nicht Zeit für das Frühstück. Erst hatte Gott (oder wer auch immer hier die Terminverwaltung unter sich hatte) das Moorbad auf meinen Tagesplan gesetzt. Wenn man dann also nach diversen Gängen und Arbeiten zum Frühstück geht, ist man auch für trockenes Brot und ein Glas Wasser dankbar. Eine Maßnahme, die natürlich die Kosten der Behandlung senkt.
Beim Frühstück konnte ich dann dank der Hilfe meiner Mitgefangenen den Wahlzettel für das Essen ausfüllen – das ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick klingen mag! Man hat die Wahl zwischen immerhin sechs Speisen. Okay, nach einer Weile hat man raus, dass man hier schrecklich verarscht wird. Aber die Wahlmöglichkeiten klingen beeindruckend. Drei Gerichte sind mit Fleisch, drei sind vegetarisch. Aber die vegetarische Version ist nichts anderes als das normale Essen, nur wird das Fleisch durch Gemüse oder Tofu ersetzt. Die beiden anderen Varianten sind "reduziert" und "Diät" – also hat man eigentlich immer die selben Zutaten, manchmal wenig oder viel ("Diät", "reduziert" oder normal), manchmal mit Fleisch oder ohne. 60% des Angebotes sind bei allen sechs Wahlmöglichkeiten identisch. Die Welt will betrogen werden!
Nach dem Essen begann ich dann – vielleicht durch das Moorbad am frühen Morgen beeinflusst? – ein wenig zu halluzinieren. Das Treppenhaus roch nach Heu (wegen der Heubäder), Wasserautomat und Fahrstuhl waren kaputt (daher schleppte ich mich durstig die Treppe hoch). Scheinbar war das hier eine Belastungsprobe für meinen Kreislauf. Es war nicht sehr überraschend, dass ich dann in der Entspannungsgruppe nach wenigen Atemzügen auf der Couch eingeschlafen bin. Angeblich habe ich nicht geschnarcht und wurde wach, als die halbe Stunde vorbei war. Hierfür brauche ich aber eigentlich keine Entspannungstechnik zu erlernen – die Übermüdung langt!

Tag 8

"Keine Details!", so müsste man diesen Absatz überschreiben. Oder minderjährige Leser bitten, ihn zu überspringen. Nun gut. Da bekommt man als Test für die Funktionen von Nieren und was auch immer einen riesigen Eimer (Plastik, durchsichtig, drei Liter) und eine Kanne (Plastik, durchsichtig, ein Liter) ausgehändigt, um über 24 Stunden hinweg die eigenen Urinmengen zu sammeln. Klingt verlockend – besonders wenn das heißt, dass man innerhalb der nächsten 24 Stunden nur in seinem WC und nur in diesen Eimer pinkeln darf. Wer mir nicht glauben will, dass das manchmal ganz schön belastend sein kann, der soll es mal ausprobieren ... um dann Harndrang zu spüren, wenn man am anderen Ende der Klinik ist.
Am nächsten Morgen stellt man den Eimer dann in einen Urinsammelraum (ja, so etwas gibt es in guten Kliniken) und wartet dann nervös auf die Ergebnisse. Obwohl ich mir große Mühe gegeben habe, immer brav in meinem Zimmer zum pinkeln verschwand und den ganzen Tag trank wie ein Kamel, hatte ich doch deutlich weniger als 1 ½ Liter zusammenbekommen. Und dann trägt man seine wertvollen Rohstoffe in den Urinsammelraum und stellt voller Schrecken fest, dass es Menschen zu geben scheint, die mit dem 3-Liter-Eimer nicht auskamen und auch noch das andere Behältnis füllen mussten. Entweder, diese Menschen haben den ganzen Tag getrunken oder sie haben Hilfspisser eingestellt, die bei ihnen in den Eimer pinkeln mussten. Hey, das ist doch nicht normal, oder?
Nicht genug, dass man Urin abgeben muss, wird danach auch noch das Blut verlangt. Scheinbar sammeln Klinikärzte gerne Körperflüssigkeiten. "So, wir hätten jetzt gerne von ihnen all ihr Urin, zwölf Kanülen Blut, 0,3 Liter Tränenflüssigkeit und füllen sie doch bitte diesen Luftballon mit Sperma!" Das sind Träume, die einem wirklich Angst machen können.
Bis zum Nachmittag war ich dann soweit erholt, dass ich mich auf die beiden "Highlights" des Tages vorbereiten konnte.
Das erste war die Wassergymnastik. Heute waren es mal keine Gummischlangen, die man sich zwischen die Schenkel stecken musste, sondern wir durften Ball spielen. Erst mussten wir den Ball unter Wasser zwischen den Beinen nach hinten reichen (was ultradoof aussieht), dann wurden wir in zwei Mannschaften eingeteilt und durften mit einem Ball, der mindestens einen Meter Durchmesser hat, Wasserball spielen. Damit meine Mannschaft – die sowieso durch meine geschmeidige Erscheinung jede Gewinnchance verspielt hatte – noch mehr gedemütigt wird, erhielt die gegnerische Mannschaft die Trainerin zur Verstärkung. Damit waren sie zu fünft, wir zu viert – und wir haben dann auch zu niemands Überraschung verloren. Es ist aber auch wirklich schwer, mit einem solchen riesigen Ball Spielzüge vorzubereiten und durchzuführen. Aber darum ging es wohl nicht. Eher ging es darum, uns auf allen Ebenen zu demütigen. Das ist gelungen.
Das zweite Highlight war das "Reinrotieren" der neuen Gäste, liebevoll "Frischfleisch" genannt. Am Abend wurden die leeren Plätze an den anderen Tischen mit neuen Patienten aufgefüllt. Und das Geschnatter, das sonst schon während der Speisen schwer zu ertragen war, wurde heute noch lauter als sonst.

Tag 9

Es ist schon erstaunlich, wie die Krankengymnastinnen und sonstigen Mitarbeiter, die einen den ganzen Tag lang von einer Anwendung zur nächsten hetzen, eine gemeinsame Sprache entwickeln. Der Satz "nun bilden wir ein Mini-Doppelkinn" hätte mich fast dazu gebracht, die Domain www.mini-doppelkinn.de anzumieten. Schön sind auch Sätze wie "im Sprunggelenk anziehen", "Bauch anspannen" und "Füße hüftbreit". Man lernt bald, welche Standardbewegungen zu diesen Standardsätzen gehören.
Und man lernt auch bald, welche Geräte dem Foltermeister zur Verfügung stehen, wenn man ihm nicht jeden Wunsch von den Lippen abliest. Da gibt es den Hocker, die bunten Bänder und die Stangen, die man hinter seinem Rücken fassen soll. Ich gebe ja zu, dass das wirklich hilft – aber warum können solche Dinge nicht ab und zu so eingesetzt werden, dass man sich nicht fühlt, als wäre man 6 Jahre alt und gerade die zweite Woche im Kinderturnen?
Natürlich ist es so, dass hier jeden Monat neue Patienten durchgereicht werden. Eine echte Bindung zwischen Mitarbeitern und Patienten kann nicht erfolgen, ist vom System her unmöglich. Also sparen die Mitarbeiter auch soviel Zuneigung wie möglich ein, weil sie wissen, dass diese an die Patienten verschwendet ist. Die verwendete Sprache wird verkürzt, vereinheitlicht. Und wenn man sowieso weiß, dass die Patienten in spätestens vier Wochen verschwunden sind, braucht man sich auch keine Mühe zu geben, nett zu klingen. Die Sprache wird bellend, fast zum Befehlston, angefüllt mit Sprachhülsen und -formeln.
Warum mir das an diesem Tag auffiel? Weil ich ganz unterschiedliche Anwendungen hatte – erst die Atemgruppe, dann die Entspannungsübung, die Gymnastikgruppe und dann das Fahrradergometertraining (schweres Wort). Die Anleiter hätten auch einfach gemeinsam erzogene eineiige Zwillinge sein können, so wie die sprachen.
Wahrscheinlich alles Klone, die nur unterschiedlich aussehen und unterschiedlich alt sind. Abzüge von der selben Verhaltensmatritze ...

Tag 10

"Zur Eröffnung der Klinik Wunselstein 1936 erschienen neben dem Reichsbademeister und dem Abt von St. Neptolyn, dem Schutzengel der Moorleichen, auch der Reichsjägermeister und der Reichsrückenarzt. Es war eine illustre Runde, die Wunselstein für die rückenkranken Reichsdeutschen öffnete."
Soweit lässt sich der Prospekt aus dem Jahre 1938, der im Chefarzt-Flur hängt, über die Vergangenheit der Klinik aus. Es gibt Tage (wie diesen), wo man gerne zu glauben bereit ist, dass seit 1936 auch keine Neuerungen mehr bei den Geräten stattgefunden haben. Die ehrenwerten Zinkwannen, in denen man im Moor versenkt wird, atmen diesen Charme noch aus.
An diesem Nachmittag nahm ich an der Wanderung der "kleinen Route" teil. Ich möchte ehrlich nicht wissen, was die "große Route" gewesen wäre. Abends war ich dann gerade noch fit genug, um mich mit ein paar Kurgenossen in die örtliche "Biker-Kneipe" (okay, sie hatte einen Kicker und einer der Gäste sah so aus, als könnte er ein Motorrad von einem Roller unterscheiden) zu setzen.
Kurz vor Schließung der Tore schafften wir es noch zurück in die Hallen der Kurklinik. Leider konnten wir dem einen Trinker, der um 22.59 Uhr eintreten wollte, nicht mehr helfen. Er stand vor der Glastür, wir standen im Vorraum. Durch Gesten und Brüllen wollten wir ihm erklären, wie er seinen Schlüssel einführen muss, damit sich die Glastür für ihn öffnet. Erst schob er den Schlüssel in die falsche Öffnung, dann schob er ihn falsch herum in den Schlitz. Zu spät stellte sich heraus, dass er noch dazu in der falschen Klinik war ... Unsere hilfreichen Kommentare von innen zur Einführung seiner Kennkarte in den Schlitz waren also sinnlos. Nie im Leben hätte das in der einen Minute noch geklappt, ihn in die richtige Unterkunft zu lotsen.

Tag 11

Dankenswerterweise hatte es morgens um 7.00 Uhr –7 C°, so dass wir ebenso dankenswerterweise morgens die Gymnastik im Gebäude hatten – nicht auszudenken, wie der Raureif geknackt hätte, wenn wir mit unseren ebenso knackenden Gelenken darauf herumgehüpft wären ...
Nach dem Frühstück kam dann das immer wieder erheiternde Moorbad. Zur Vorbereitung der Anwendung begab ich mich in schon wieder in den Keller, um dort mit den anderen bestellten Patienten auf den Beginn der Anwendung zu warten. Doch so einfach war das nicht: Heute durften wir Patienten ein Kind aufsammeln, dass in den Gängen unterwegs war. Der Klinik ist die Kinderbetreuung für den Nachwuchs der hier kurenden Patienten im örtlichen Kindergarten zu teuer, weswegen die Kinder im Spielzimmer "beschäftigt" werden. Natürlich finden die Kinder das nicht so schön und gehen dann stiften. Es ist ein schönes Bild, wenn fünf Männer mit Bademänteln und Plastiklatschen einem Kind hinterherlaufen, das in den Gängen herumtollt.
Der Tag konnte nicht schlechter werden – so dachte ich zumindest. Zur Gymnastikgruppe lief dann "Kuschelrock". Zum Kuscheln ist einem nicht zumute, wenn man damit beschäftigt ist, nassgeschwitzt auf einer Matte seinem Körper Biegungen abzuverlangen, die man ihm schon lange nicht mehr abverlangt hat. Aber: Was soll’s! Die Gruppenleiterinnen sind nicht angestellt worden, weil sie ein tieferes Gespür für die menschliche Psyche haben ...
Am Anreisetag hatte ich eine weiße Stofftasche erhalten, auf der Logo und Adresse der Klinik aufgedruckt waren. Es sieht nicht nur bescheuert aus, wenn man mit dieser Tasche herumläuft (so wie alle anderen Patienten, die es genauso machen) – man kann die Tasche auch volltrunken vor Taxifahrern hochhalten, "Brgmnpf" murmeln und trotzdem heimgefahren werden.
Vom Gruppendruck, der einen zu einem "von uns" macht, wenn man diese hässliche Tasche trägt, ganz zu schweigen.

Tag 12

Ein Tag voller eigenartiger Vorkommnisse.
Morgens klingelt, als ich gerade mit dem Duschen fertig war, mein Telefon. Ich eile hin und erfahre, dass ich beim Duschen irgendwie gegen den Alarmzug gekommen bin. Hätte ich das Telefon nicht beantwortet, dann wären wenig später Arzt und Schwester bei mir eingedrungen, um mein nicht gefährdetes Leben zu retten. Wieder einmal Glück gehabt.
Eine Bestandsaufnahme ergab, dass sich in meinen Räumlichkeiten ein Notzug in der Dusche, einer neben dem Bett, einer neben dem WC und einer neben der Tür befinden. Irgendwie bin ich ganz froh, dass nicht noch bestimmte Teile des Teppichbodens mit Alarmkontakten verbunden sind – ich würde sonst andauernd von Schwestern am Telefon belästigt, weil ich mir nicht merken kann, welche Stellen der Wand und des Bodens bei Berührung Alarm auslösen.
Die müssen zu viel Zeit haben, diese Schwestern. Anders ist das System nicht zu erklären, oder?
Beim Frühstück hatte ich, als ich wieder einmal in der Schlange für eine Kleinigkeit zu essen anstand, eine eigenartige Vision. Ich hatte die Idee, dass die dicke Frau in der Schlange neben mir auf einmal ihr leeres Geschirr fallen lässt, die Arme nach hinten wirft und aus geöffnetem Rachen mit lauter Stimme "Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da" zu singen beginnt. Ich hätte dann meine Sachen fallen gelassen und danach "Flieger, grüß mir die Sonne!" intoniert. Irgendwie weckt dieser Frühstücksraum in mir eigenartige Assoziationen auf leeren Magen.
Vormittags wollte ich dann in die nächste Stadt fahren, ein wenig konsumieren. Der Zug, dessen Verbindungsdaten man mir dankbarerweise an der Rezeption meiner Kurklinik aus dem Internet ausgedruckt hatte, verkehrte aber heute nicht. Eigentlich fährt der nie, wenn man dem Fahrplan an der Bahnhofswand glauben schenken darf. Ich war zum Glück nicht der einzige Patient, der auf diesen Phantomzug hereingefallen ist. Außer mir – man hatte ja viel Zeit, die anderen kennenzulernen – waren da noch zwei Paare aus den USA, die zu einer Krebstherapie hier waren, zwei andere Deutsche, die sich mit Rheuma herumplagten, und ein Eingeborener, dem man wahrscheinlich auch nicht erklärt hatte, dass die Auskunft der Bahn via Internet geheime Gefahren birgt.
Ich durfte 87 Minuten warten, weil ich der modernen Technik vertraut habe. Computer helfen uns, Zeit zu sparen, die wir nicht sparen müssten, wenn es keine Computer gäbe. Die Zeit, die uns der Computer einsparen hilft, verwenden wir darauf, Programme zu installieren, mit denen wir dann die Zeit sparen können ... Ein Teufelskreis, der uns in die Abhängigkeit von Softwareherstellern treibt!
Und der Slogan der Bahn ist scheinbar weiterhin: "Genießen sie das Leben in vollen Zügen!"

Tag 13

Manchmal hat das Universum schon einen eigenartigen Humor. Morgens gab es zum Frühstück aus dem Radio "Griechischer Wein" – und das bei zwei Schlangen von Leuten, die nur Schonkost oder Diät essen dürfen, von Alkohol in der Klinik erst gar nicht zu reden.
Zum Abendessen lief dann "Aufrecht geh’n" – und mein Blick schweifte über die zwei Schlangen von Menschen mit Haltungsschäden, die gebückt auf die Essenausgabe zugingen, und irgendwie konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Tag 14

Heute morgen fühlte ich mich ein wenig in eine sozialistische Massenveranstaltung versetzt. Zum Frühsport bekamen wir jeder einen Stock mit bunten Bändern (gelb bzw. rot) in die Hand gedrückt. Dann ging es hinaus auf die Wiese, wo wir lustige Übungen mit den Dingern gemacht haben. Wahrscheinlich haben unsere üblichen Beobachter auf den umliegenden Balkons gejohlt, als sie uns sahen.
Das ging eine halbe Stunden lang gut, bis ein älterer Herr, der ein paar Plätze von mir entfernt stand und wedelte, in breitestem berlinerisch "Ich dachte, wir hätten das hinter uns!" sagte. Danach war es nicht mehr möglich, ernsthaft zu arbeiten.
Nachmittags durfte ich dann in die Wassergymnastikgruppe. Die meiste Zeit haben wir uns damit beschäftigt, Wasserball zu spielen. Da es uns armen Kranken nicht zuzumuten ist, mit normalen Bällen zu spielen, war unser Ball so groß wie ein Sitzball, dafür aus Plastik und sehr leicht. Immerhin war so andauernd klar, wer gerade im Ballbesitz war – aber leider ist mit diesem Ball ein richtiges Abspielen und Werfen nicht möglich. Also hält man den Ball mit ausgestreckten Armen weit über den Kopf und stampft damit auf das gegnerische Tor zu. Das ganze sah bestimmt nicht sehr grazil aus, besonders weil die Ballabnahmen darauf hinaufliefen, dass jemand mit der Faust gegen den Ball schlägt, so dass man ihn verliert. Danach begann sofort wieder die wilde Balgerei, wer als nächster den Ball bekommen sollte. Irgendwie kindisch, aber man ist ja hier, um sich zu erholen.

Tag 15

Heute war ein Tag, der Abenteuer brachte!
Meine erste Aufgabe war das Waschen von Wäsche. Alles andere wurde hier vor Ort für einen erledigt – man muss nicht selbst das Zimmer aufräumen oder Essen machen. Über seinen Tagesablauf muss man auch nicht selbst nachdenken, das wird einem von der Organisation der Kur abgenommen. Ein angenehmer Zustand, der ein wenig an ein Hotel erinnert.
Aber Wäsche, die muss man noch selbst waschen. Und natürlich ist hier alles organisiert, damit keine Anarchie einzieht. Zuerst marschiert man mit Bargeld an die Rezeption und erwirbt dort Waschmarken. Dann geht man in den nahe gelegenen Drogeriemarkt und erwirbt eine Flasche mit Waschmittel. Natürlich kann man die in den Wochen, die man hier verbringt, nicht aufbrauchen, weswegen abreisende Kurgäste gerne neuen Kurgästen ihre halbvollen Waschmittelflaschen schenken. Leider war ich nicht der Empfänger einer solchen Morgengabe geworden, weswegen ich selbst einkaufen gehen musste.
Dann begibt man sich auf die Suche nach einer Waschmaschine. Der Waschkeller mit Waschmaschinen und Trocknern verbirgt sich in einem Trakt, der genauso gut auch zu einem Betonhochhaus aus den 70ern passen würde. Erst verläuft man sich ein paar Mal, dann folgt man dem Geräusch der Trommeln (nicht der Eingeborenentrommeln, sondern der Waschtrommeln).
Dann heißt es: warten. Irgendwann wird eine Maschine frei. Unauffällig räumt man die Wäsche des Vorwäschers in einen Plastikkorb, der dankenswerterweise bereitsteht, und wirft die eigene Wäsche ein. Hey, das ist hier gängige Praxis – niemand mag warten, bis jemand anders die Maschine endlich leer räumt! Einmal habe ich später aus Verzweiflung nachts gewaschen, um diesem Ärger zu entgehen.
Dann versucht man, das Ende des Waschvorgangs abzupassen. Natürlich ist man zu spät, die Maschine ist wieder in Benutzung und man darf den Plastikkorb suchen, in dem die eigenen Sachen liegen. Diese Sachen füllt man dann in den Trockner ein und hat dasselbe Spiel vor sich – fremde Sachen rausräumen, eigene Sachen reinräumen, später den Plastikkorb suchen. Eine echte Freizeitbeschäftigung.
Aber man hat ja Zeit, viel Zeit, von daher macht es einem nichts aus, für einen Waschgang drei oder vier Mal in den Nebentrakt zu laufen und dort in aller Ruhe immer wieder einen neuen Arbeitsschritt für das Waschen in Angriff zu nehmen. Irgendwie ist das schon eine nette Abwechslung von der täglichen Routine, die hier normalerweise herrscht ...
Tage später stellte ich nebenbei fest, dass mein Sportzeug unterschiedlich schnell ausbleicht. Während mein Oberteil noch fast schwarz war, wurde meine Trainingshose erstaunlich schnell dunkelgrau, dann hellgrau. Beides hatte die selben Waschanweisungen, beides war gleich alt ... ich weiß einfach nicht, was da schiefgegangen ist.
Abends hatte ich mich locker mit ein paar jungen Damen und Herren für einen Besuch im nahegelegenen Tanzcafe verabredet. Im Gegensatz zum "Mumien schieben", das in dem anderen Tanzcafe en vogue war, versprach man mir, dass dort bessere Musik läuft. Naja.
Eine meiner Begleiterinnen ist dann fahrlässigerweise an diesem Tag Fahrrad gefahren und von einem Hund gebissen worden. In die Kurklinik zurückgekehrt bat sie mich dann, sie mit dem Taxi zu dem Bauernhof zu begleiten, aus dem der Hund gekommen war, der sie gebissen hatte. Nach der ärztlichen Versorgung war nämlich klar geworden, dass sie Anspruch auf Schmerzensgeld und Übernahme der Kosten durch den Hundehalter hatte.
Das ältere Ehepaar, das wir dann endlich in dem Bauernhof aufgetrieben haben, sprach einen bayrischen Dialekt, der uns fast unverständlich war. Aber irgendwann waren die Formalitäten geklärt und einer Kostenübernahme stand nichts mehr im Wege.
Mir ist bis heute nicht klar, warum man hier einfach Hunde freilaufen lässt, besonders, wenn (wie in diesem Fall) bekannt ist, dass sie beißen und wenn der Hof an einem ausgeschilderten und gut frequentierten Fahrradweg liegt. Wahrscheinlich gehen die Eingeborenen davon aus, dass die Kurgäste das Abenteuer suchen und gerne mal durch einen Hundebiss oder Pfeilbeschuss aus der täglichen Langeweile gerissen werden. Die ärztliche Betreuung ist immerhin sicher gestellt, wenn man in einer Kurklinik untergebracht ist.
Abends hatten wir dann durch das wegen der Verletzung ausfallende Tanzen Zeit, im Foyer zu sitzen und uns zu unterhalten. Eine wichtige Erkenntnis haben wir bekommen: Trotz diverser Versprechen hat sich bis jetzt noch keiner von denen bei uns gemeldet, die in den letzten Tagen heimgefahren sind. Kein Anruf, keine Karte – obwohl man das uns brav zugesichert hatte.
Die Theorie, die wir dann entwickelten, war stichhaltig, weil sie alle bekannten Fakten einschloss: Die ganzen abgereisten Patienten, die nicht einen vollen Kurerfolg vorweisen können, kommen niemals daheim an. Sie werden im Keller auf Eis gelagert und dienen der Kurklinik als Organspender. Das erklärt auch den Spitznamen für die gegenüberliegende Kneipe: "Station 10". Station 1-8 sind im Haus, Station 10 ist die Kneipe – also bleibt Station 9 für die Kälteschlafkammer.

Tag 16

Heute war ein debiler Tag. Erst habe ich mich mit einer Krankenschwester über das Sterben unterhalten, dann kam ich mit anderen Leuten im Laufe des Tages mal so eben auf den Tod.
Komisch. Monatelang spricht kein Mensch mit einem über das Sterben und auf einmal kommen Tage oder Wochen, in denen das andauernd präsent ist. Ich glaube nicht länger daran, dass das nur eine zufällige Häufung ist. Das Universum will mich verwirren ... oder meine Umwelt spricht sich ab und entscheidet, dass an bestimmten Tagen bestimmte Themen einfach "dran" sind, jeder Widerstand ist zwecklos.
Nachmittags bin ich dann in die Nachbarklinik gegangen, um mir ein Eis zu kaufen. Die neurologische Klinik, die gleich neben der Kurklinik liegt, hat einen wohlsortierten Kiosk, der mir in den letzten Tagen ein paar Mal empfohlen worden war. Die Sonne scheint, mir ist heiß, also mache ich mich auf den Spaziergang.
Vor der Klinik sitzen dort Familien auf Bänken. Als ich vorbeischlendere fällt mein Blick auf eine scheinbar italienisch-stämmige Kleinfamilie bestehend aus Mutter, Vater, Tochter und Sohn. Sie sitzen da, unterhalten sich und genießen die Sonnenstrahlen. Als ich an ihnen vorbeilaufe springt die Tochter auf einmal hoch und auf mich zu, wobei ihre zu Krallen verkrampften Hände in Richtung meines Gesichts zucken. Geistesgegenwärtig springt ihr Vater auf und erwischt sie am Becken, so dass sie statt mich zu erreichen ins stolpern kommt. Ihr Bruder ist auch sofort auf den Beinen, um mich abzudrängen.
Hektisch weiche ich einen Schritt zurück, was ihrem Vater und ihrem Bruder Gelegenheit gibt, sie zu Fall zu bringen und dann zur Bank zurückzuführen. Der Vater schaut mich mit einem Blick an, der mir durch Mark und Bein geht. Ich fühle mich, als wäre ich daran schuld, dass seine Tochter aufgesprungen ist. Langsam entferne ich mich rückwärts gehend.
Auf dem Rückweg vom Kiosk habe ich einen anderen Weg gewählt.

Tag 17
Heute hatte ich eine lustige Unterhaltung mit einem anderen Kurgast. Wir zwei haben uns eine Weile lang gemustert, weil wir beide in dem Glauben lebten, den jeweils anderen irgendwoher zu kennen.
Eine Stunde später hatten wir herausgefunden, dass unsere Leben bis jetzt keinen Berührungspunkt gehabt hatten; wir konnten uns nicht von irgendwoher kennen.
Für mich war das nicht so schlimm, denn bei dem ständigen Gästewechsel, der in einer solchen Klinik stattfindet, ist es ganz normal, dass man ab und an jemanden sieht, der einem bekannt vorkommt – und wenn dieses Gefühl dann auch noch von der anderen Seite geteilt wird, dann führt es eben zu solchen Unterhaltungen wie dieser.
Mein Gegenüber war aber in den letzten Tagen schon mehrfach angesprochen worden, weil Leute meinten, ihn von irgendwoher zu kennen. Einer hatte ihn wohl auch freundlich mit "Herr Mancini" begrüßt, weil er im Glauben lebte, ihn von früher samt Namen zu kennen. Natürlich hieß mein Gegenüber nicht Mancini, kannte auch keinen von den Leuten, die ihn grüßten und niemanden, der "Mancini" hieß.
Vielleicht war das ein übler Spaß der anderen Kurgäste, um ihn zu verwirren. Vielleicht war es aber auch einfach so, dass er in seiner Kindheit geklont worden war. Diese Klone waren auf verschiedene Städte verteilt worden und lebten dort unter unterschiedlichen Namen (z.B. Mancini, wie jetzt in Erfahrung gebracht worden war). Zum ersten Mal war einer der Klone (oder war er das Original?) in Kur und schon flog die ganze Geschichte auf.

Tag 18

Ende der Woche hat man immer den "Behandlungsplan" für nächste Woche im Fach. Schön finde ich den Titel "Terminierung" auf dem Blatt. Das klingt so, als würde man von einem Schwarzenegger-Lookalike auf dem Gang gejagt und dann ausgerottet, wenn man den Anweisungen folgt.
Jedes Mal, wenn sich auch nur eine einzige Anwendung ändert (und wenn nur ein anderer Masseur den Dienst übernimmt) bekommt man einen geänderten Ausdruck in das Fach gelegt – "Ihr Behandlungsplan hat sich geändert". Natürlich muss man alle diese Blätter aufheben, weil die vielleicht irgendwann mal ganz wichtig werden. Werden die natürlich nie, aber Ordnung muss sein. Am Montag hatte ich schon sieben Seiten zusammen: drei Seiten hatte ich anfangs erhalten (der Originalplan), eine Seite änderte Dienstags den Plan für Dienstag, drei Seiten druckten dann den geänderten Plan für Dienstag bis Freitag noch einmal aus. Irgendein Mitarbeiter scheint einen verdammt guten Draht zu einer Papierfirma zu haben ...
An diesem Tag habe ich das im großen Saal durchgeführte "Abschlussgespräch" verpasst, dass vor der Abreise mit allen nächste Woche verschwindenden Patienten geführt wird. Aber ich hatte auch einen harten Tag. Morgens raus aus dem Schlafanzug, rein in den Trainingsanzug. Nach der Anwendung raus aus dem Trainingsanzug, rein in die Schwimmsachen. Nach dem Schwimmen raus aus den Schwimmsachen, rein in den Bademantel. Nach dem Moorbad raus aus dem Bademantel, rein in normale Kleidung für das Abendessen. Nach dem Abendessen raus aus der normalen Kleidung, rein in was Schickes zum Weggehen. Abends dann raus aus der schicken Kleidung, rein in den Schlafanzug. Hey, das war zu viel für einen Patienten!
Von wegen Moorbad: Da liegt man eine ganze Weile im heißen Moor herum, völlig ausgelaugt und zu jeder Bewegung unfähig. Aber man kann sich Gedanken machen ... Im Moorbad ist man ganz alleine, die Mitarbeiterinnen verschwinden immer, nachdem man ins Moor gelegt wurde, und kommen nur alle paar Minuten wieder, um nachzuschauen, ob man noch lebt. Wenn man Glück hat, erwischt man eine Mitarbeiterin, die einem auch noch ab und an mit einem Tuch die Stirn abwischt, weil man sonst Schweiß in die Augen bekommt. Das juckt und der Schweiß ist im Moorbad nur schwer zu beseitigen, weil man natürlich durch das Moor total versiffte Hände hat, mit denen man sich ungern die Augen reiben möchte.
Wenn man einen anderen Patienten überreden könnte, der in der Kabine wartet, während man ins Moor gelegt wird ... Danach könnte man lustige Dinge anstellen. Zum Beispiel könnte man sich ein kleines Segelschiff bringen lassen, das im Moor schwimmt. Oder eine graue Rückenflosse in das Moor stecken und laut "Haie! Haie!" rufen, bis Hilfe kommt. Auch nicht schlecht fände ich es, wenn man kurz aufsteht und sich eine Trainingshose anzieht. Das fällt natürlich erst auf, wenn man zum Abduschen aufstehen muss. Während die Mitarbeiterin komisch guckt, sollte man dann Sachen sagen wie: "Ich habe mich auch gewundert, dass ich mich nicht vorher ausziehen sollte ..." oder "Ich glaube, die Hose kriege ich nie mehr sauber!". Am besten macht man das bei der letzten Anwendung, weil sonst könnte man mit Moorbad-Verbot belegt werden.

Tag 19

Am Wochenende gibt es immer "Kino" in der Mehrzweckhalle. Das Wort "Kino" steht deswegen in Anführungsstrichen, weil man davon eigentlich nicht sprechen kann. Die Sitze sind unbequem, die Tonqualität ist miserabel und das Bild wird auf eine knittrige Leinwand projiziert, damit jeder Versuch, den Film mit Genuss zu sehen, gleich vereitelt wird.
Außerdem werden hier Hollywood-Reißer durchgenudelt, die ungefähr 26 Monate vorher im Kino waren. Während Fluglinien Filme nehmen, die noch nicht wirklich jeder gesehen hat, ist hier scheinbar der Versuch gestartet worden, möglichst Filme zu wählen, die jeder schon einmal gesehen hat.
Am einzigen Abend, wo ich mich dann habe hinreißen lassen, das "Kino" zu besuchen, war im Nachbarraum gerade ein Gesangsvortrag in Mundart. War schon irgendwie eigenartig – das zerknitterte Bild von "Pearl Harbour" und dazu bayrische Volkslieder. Nein, länger als drei Minuten habe ich das nicht ausgehalten.

Tag 20

Die Wochenenden hier sind sowieso komisch. Eigentlich darf in der Kur niemand nach Hause fahren. Trotzdem beginnt jedes Wochenende die große "Landflucht" aus Gängen und Fluren. Die Säle sind verwaist, die Hallen leer.
Da es nicht gestattet ist, die Kur zu unterbrechen, sind Horden von geheimen Wochenendheimfahrern unterwegs. Natürlich kneift die Hausverwaltung beide Augen zu, denn selbst einem mathematisch nur schwach begabten Menschen dürfte auffallen, dass bestimmte Menschen am Wochenende zu keiner der sechs Mahlzeiten erscheinen. Wenn sie im Gebäude bzw. wenigstens im Ort sind – warum erscheinen sie dann nicht zu den Mahlzeiten?
Die Gegenbewegung zu den Wochenendflüchtlingen sind die Familiensymbionten. Sie haben es verinnerlicht, dass sie die Kur nicht für ein Wochenende unterbrechen dürfen, und so verbringen sie die Wochenenden (oder zumindest einen Teil davon) im Kreis "ihrer Lieben". Sie sitzen schon Samstag morgens in normaler Kleidung im Foyer und warten auf das Eintreffen von Frau und Kindern, Schwiegereltern und Onkeln. Die ersten Floskeln werden ausgetauscht ("Du siehst aber gut aus!", "Ja, Schatz, ich habe genug Wäsche mit" und "Nein, ich kann jetzt keine Führung durch die ganze Anlage machen"), dann geht man im Ort "eine Kleinigkeit" essen, küsst sich abends zum Abschied und schon ist man wieder alleine, um sich während der Kur zu erholen ...

Tag 21

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Kurgäste über ihre Behinderungen reden. Kaum sitzt man mit Leuten, die man vorher noch nie oder vielleicht nur zwei oder drei Mal kurzzeitig im Speisesaal gesehen hat, an einem Tisch in der Cafeteria, schon dreht sich das Gespräch um Krankheiten, Medikamente und Behandlungsmethoden. Und was wird hier nicht an Registern gezogen! Von unheilbaren Krankheiten im Bekanntenkreis über Medikamente ohne europäische Zulassung und Wunderkuren aus den USA bis hin zu Bestrahlungen, Arbeit mit wundertätigen Yogis und einer Diät, welche die "giftigen Zellen" im Körper verhungern lässt, kriegt man hier alles geboten.
Ich bin nach solchen Gesprächen immer sehr dankbar, dass die Kur nicht dazu führt, dass man sich in der selben Offenheit über Ekzeme oder Form und Farbe des eigenen Stuhlgangs auslässt. Es gibt doch noch Grenzen des guten Geschmacks.
Im nahe gelegenen Tanzpalast hatten wir bei jedem Besuch die Gelegenheit, der kapitalistischen Variante von 40:60 zu lauschen. In der DDR stand 40:60 für die Einteilung "40 % Westmusik, 60 % Ostmusik" bei Tanzveranstaltungen. Hier in Bayern hat sich dieses Prinzip ganz anders durchgesetzt. Auf 40 % tanzbare Titel kamen 60 % Gehörgangvernichter. Immer dann, wenn man gerade stand und tanzte, konnte man sicher sein, dass das nächste Stück jeden von der Tanzfläche vertrieb.
Ist wohl so in solchen Gegenden. Widerstand ist zwecklos.

Tag 22

Der Abreisetag. Uff. Endlich hatte ich es geschafft, die Kur hinter mich zu bringen. Die Abreisevorbereitungen waren dann noch stressiger als erwartet. Natürlich wollte man morgens noch mein Gewicht, meine Blutwerte und meine Größe. Als hätte man nichts besseres zu tun, wenn man am selben Tag abfahren will ...
Das Gepäck hatte ich rausgestellt und mit Aufklebern versehen. Es war auch wirklich am vereinbarten Tag bei mir daheim.
Am Tag vorher hatte ich schon das abschließende Doktorgespräch hinter mich gebracht. Überraschend war für mich keine der Erkenntnisse, die man mir hier präsentierte.
Als es dann mit dem klinikeigenen Bus zum Bahnhof ging, packte mich fast so etwas wie Wehmut. Seufz. Nach drei Wochen hier hatte ich mich schon fast an den schönen Blick und an die gute Luft gewöhnt. Aber der Dialekt – nein, für einen längeren Aufenthalt hier bin ich nicht gemacht. Froh war ich dann doch, als der Zug den Bahnhof verließ und ich Wunselstein, die Berge und meine Kur hinter mir lassen konnte.