Erinnerungen an Prag

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Schlaraffen hört!

In den 80er Jahren war ich als Organisator und Reiseleiter mehrmals im Rahmen von durch mich organisierten Bildungsurlauben in Prag. Damals war es zwingend notwendig, dass die politische Beschäftigung mit dem Gastgeberland Teil der Programmplanung war. Natürlich war das eigentlich lächerlich, denn ein Besuch in Prag führte einen automatisch durch die Politik der Tschechoslowakei, wie das ungeteilte Land damals noch hieß.
Wir sahen die Alt-Neu-Synagoge, den jüdischen Friedhof, die goldene Gasse, das Museum für ein untergegangenes Volk, das Grab von Rabbi Löw, die kleinen Nebenstraßen mit ihren pittoresken Geschäften, die Restaurants mit ihrem charmanten Kellern, deren wienerdeutsches "Wolle Geld tausche" zu einem geflügelten Ausdruck jeder Gruppe wurde.
Die Welt war noch in zwei Hälften geteilt, und die Hälfte hinter dem eisernen Vorhang war in den 60er Jahren und im tiefen Winter des kalten Krieges eingefroren worden. So war es nicht verwunderlich, dass man an einem Tag immer einen politischen Vortrag erhielt. Erst kamen Filme über deutsche Kriegsgräuel in der Tschechoslowakei, dann ein Film über die siegreiche kommunistische Partei und zuletzt ein Vortrag eines deutschsprechenden Menschen, dem der Begriff "Propagandaoffizier" angestanden hätte. Angetan in einer Mischung aus Uniform und Arbeiterkleidung war sein Deutsch gut, seine Manieren hervorragend.
Es ging in seinem Vortrag um die Situation nach dem 2. Weltkrieg, die von Osten nach Westen verlaufenden Schienen der Staatsbahn und den folgerichtigen Anschluss an das siegreiche Osteuropa, welches in Gestalt der Sowjetunion das Land von der Geißel Nazideutschlands befreit hatte. Aha.
Es kam nicht zum weltweiten Sieg des Kommunismus, wie man inzwischen aus der Presse entnommen haben dürfte. Ich muss das hier als Hinweis erwähnen, da die Beschäftigung mit Politik bei den Schlaraffen verpönt und daher Allgemeinwissen nicht überprüfbar ist, jedoch Klio als Muse und ihr Wissensgebiet als schlaraffisches Kunstteil schon erwähnenswert scheinen.
  Also plante ich eine weitere Reise nach Prag. Mehrere Jahre nach dem Aufgehen des eisernen Vorhangs organisierte ich einen erneuten Bildungsurlaub nach Prag. Wieder kamen die Führungen, dieses Mal bedrängt von asiatischen Reisegruppen mit Kameras, dann auch der obligatorische Tag der politischen Indoktrination. Erst kamen Filme über deutsche Kriegsgräuel in der Tschechoslowakei, dann ein Film über die siegreiche Macht des Kapitalismus und zuletzt ein Vortrag eines deutschsprechenden Menschen, dem der Begriff "Konsumknecht" angestanden hätte. Angetan mit Micky Maus-Mütze und Blue Jeans war sein Deutsch gut, seine Manieren hervorragend.
Es ging in seinem Vortrag um die Situation nach dem 2. Weltkrieg, die von Westen nach Osten verlaufenden Schienen der Staatsbahn und den folgerichtigen Anschluss an das freiheitsliebende Westeuropa, welches in Gestalt der Deutschen das Land von der Geißel der Sowjetunion befreit hatte. Aha.
Ich meldete mich zu Wort.
"Werter Herr", so führte ich aus, "ich habe ihren Ausführungen gelauscht und bin völlig ihrer Meinung. Etwas irritiert mich nur, dass ich vor fünf Jahren schon einmal hier war und sie in anderer Kleidung ein ebenso überzeugendes Plädoyer für die Gegenseite hielten, unter Zuhilfenahme derselben Erklärungsmuster. Wenn ich jetzt in fünf Jahren wiederkomme – was gibt mir dann die Gewähr, dass sie nicht wieder in ihre alte Rolle zurückfallen oder gar etwas völlig anders erzählen?"
Seine Antwort war: "Nichts gibt ihnen diese Gewähr. Aber dieses Mal sage ich die Wahrheit – ehrlich." Dabei zwinkerte er mir zu, hob seinen Micky Maus-Hut kurz grüßend über den Kopf du verließ den Vortragssaal.
Ich beschloss, fünf Jahre später nicht nach Prag zu reisen, um die Reste meiner geistigen Gesundheit nicht zu verlieren.
Denn: Wahnsinn hat seinen Preis. Bitte zahlen Sie passend.

Lulu!