Lasst uns Menschen würfeln!

Aus hermannritter.de
Wechseln zu: Navigation, Suche

1. Vorbemerkung
Das Fantasy-Rollenspiel als Spiel ohne Computer und Plastikwaffen ist ein Kind der 70er Jahre. In den 80er Jahren trat es – bald begleitet von Computerrollenspielen, Zubehör und Fantasy-Literatur – seinen Siegeszug durch die Spieleläden und Wohnzimmer an.
Ich will die Entwicklung des Fantasy-Rollenspiels unter besonderer Berücksichtigung der menschlichen, halb-menschlichen, viertel-menschlichen und nicht-menschlichen Rassen aufzeigen, die Rollenspieler und Erfinder von Rollenspielen sich ausdenken, während sie bei Bier und Brezeln in einem dunklen Keller sitzen und auf den Pizza-Bringdienst warten ... Eine kurze Erläuterung ist angebracht: "Beer and Pretzel"-Games nennen die Amerikaner kurzweilige Spiele, die man in netter Runde eben bei Bier und Brezeln absolvieren kann.
Ich selbst bin seit über 20 Jahren Fantasy-Rollenspieler und habe viele Jahre damit verbracht, in unterschiedlichsten Funktionen in und für die Spieleindustrie zu arbeiten. 1988 habe ich meine Diplomarbeit über Fantasy-Rollenspiele geschrieben[1] – leider Platz 2 in der Rangfolge von Veröffentlichungen über das Thema in Deutschland, aber immerhin.

2. Was ist ein Fantasy-Rollenspiel?
Da ich nicht weiß, ob alle LeserInnen wissen, was ein Fantasy-Rollenspiel ist, sei mir ein längere Erläuterung dazu erlaubt.
Man stelle sich eine Runde von Leuten vor, die um einen Tisch herum sitzen. Auf diesem Tisch liegen eine Karte eines mystischen Landes (Mittelerde, Aventurien oder wie auch immer genannt), Würfel (in den unterschiedlichsten Größen – vom Vierseiter bis zum Zwanzigseiter), diverse Spielerbögen, auf denen die Daten der Spielfiguren notiert sind, Zinnfiguren, Gläser, Chips-Tüten und vollgemalte Notizzettel. Einer der Spieler ist Spielleiter, er kontrolliert die Geschichte, die gemeinsam von den Spielern – Abenteurer genannt – durchlebt wird.
Die Rolle des Spielleiters darf man nicht unterschätzen:
"In fact, there are only two rules that count – call them the Golden Rules of Role-Playing: • Rule Number One: The referee can make up anything he wants. • Rule Number Two: The referee’s word is law."[2]
Die Spieler haben jeder einen Charakter ausgearbeitet (die grundlegenden Eigenschaften ausgewürfelt, einen Beruf gewählt etc.) – also einen Elben-Bogenschützen aus Mittelerde, einen Krieger aus Aventurien, einen Berserker aus Midgard. Der Spielerbogen trägt den Namen des Spielers, den Namen der Spielfiguren (zum Beispiel Bombodil oder Hulk von Schwarzenstein) und einige Angaben über Besitz (zum Beispiel: Beutel mit 30 Goldstücken, 20 m Seil mit Wurfanker, Dolch, Bogen mit 20 Pfeilen im Köcher, ein Heiltrank, ein Set Wäsche zum Wechseln, Wasserschlauch und so weiter). Zusätzlich sind hier die wichtigsten Fähigkeiten des Charakters auf dem Bogen vermerkt.
Nehmen wir eine einfache Lösung – beziehen wir uns auf Prozentwerte für die Angaben. Unser Elb Bombodil hat eine Chance von 60 % mit einem Bogen zu treffen. Wenn er jetzt schießen will, dann würfelt er mit Prozentwürfeln (das sind zwei zehnseitige Würfel, von denen einer die Einzelstellen, einer die Zehnerstellen angibt) gegen diesen Wert (also weniger oder gleich), um sein Ziel zu treffen. Dann würfelt er mit anderen Würfeln, um zu ermitteln, wie viel Schaden er gemacht hat.
Eine begriffliche Vorwarnung ist an diesem Punkt angebracht: Im Gegensatz zum Rollenspiel, das aus dem Psychodrama hervorgegangen ist, ist das Fantasy-Rollenspiel kein therapeutisches Instrument, sondern ein Spiel (also: Es werden keine Familien aufgestellt!). Umgangssprachlich nennen Fantasy-Rollenspieler ihr Hobby Rollenspiel, auch die Live-Rollenspieler (dazu später) bezeichnen sich einfach als Rollenspieler. Eine kurze Definition sei daher versucht: Rollenspiele müssen drei Voraussetzungen erfüllen, um sich als Fantasy-Rollenspiel zu qualifizieren:[3]
a. Die eben genannten Wahrscheinlichkeiten für die Anwendung von Fertigkeiten wie Klettern, Bogen schießen oder einen Zauber wirken müssen vorhanden sein. Man nennt dies in der Literatur "quantifizierbare Charakter-Eigenschaften" und "Regeln zur Lösung von Konflikten" – "Although the purpose is storytelling, the process is a game because it has definite rules that impose a structure on decision making and action resolution."[4]
b. Eine interaktive Handlung zwischen den Spielern und dem Spielleiter. Man braucht jemanden, der die Geschichte (Abenteuer genannt) erzählt und jemanden, der bei der Geschichte mitspielt.
c. Das Ziel des Fantasy-Rollenspiels ist das Entstehen einer gemeinsamen Handlung/Geschichte, in welcher die Abenteurer die Helden sind. Die Abenteurer bilden eine Gruppe, die gemeinsam versucht, eine Aufgabe (Rettung der Prinzessin, Lösen des Rätsels um einen verwunschenen Turms, Durchsuchen eines verschütteten Tempels) zu lösen.

3. Die Geschichte des Fantasy-Rollenspiels
Vor 1974 gab es kein Fantasy-Rollenspiel. Es gab nur zwei Arten von Konfliktsimulationen, beide wargames genannt, die als Vorläufer des Fantasy-Rollenspiels gelten können. Auf der einen Seite waren dies die Brettspiele (wie z.B. "Risiko" und "Diplomacy"), auf der anderen Seite die miniatur games, bei denen historische Schlachten mit Gruppen von Metallfiguren als Armeeeinheiten maßstabsgetreu nachgespielt werden. Schlachten wie Waterloo lassen sich so bequem auf zwei Tischtennisplatten nachstellen.
Bald stellte man fest, dass es notwendig war, einen Schiedsrichter einzuführen (später Spielleiter genannt), welcher vermittelnd zwischen den einzelnen Gruppen/Fraktionen stand. Ebenso war schnell der Wunsch vorhanden, die Spieler Einzelfiguren (statt Armeeeinheiten oder ganze Armeen) spielen zu lassen, um die Identifikation mit der Figur zu erhöhen. Drittens war der Wunsch vorhanden, die einzelnen Spiele im Rahmen einer Kampagne zu verbinden, so dass Figuren sich von Spiel zu Spiel weiterentwickeln können. Mit der vierten Idee, sich von den historischen Schauplätzen zu lösen, waren die Grundlagen für das Fantasy-Rollenspiel gelegt.[5]
Ab 1971 entwickelten die beiden Amerikaner Dave Arneson und Gary Gygax aus diesen Grundannahmen heraus erst ein Spiel namens "Chainmail" (1971), dann 1974 "Dungeons & Dragons". Ein Nebenzweig dieser Entwicklung war das Brettspiel "Dungeon", in Deutschland als "Verlies" vermarktet.
Neu war in "Dungeons & Dragons" die Unterscheidung zwischen verschiedensten Fähigkeiten der Charakter, die einzeln gesteigert/trainiert werden konnten – im Laufe einer Kampagne wurde die Spielfigur immer besser, immer mächtiger, sie gewann an Ausrüstung und Besitz hinzu.

Die Idee des Fantasy-Rollenspiels wurde sehr gut aufgenommen. Die erste Umsetzung der Grundidee auf einen anderen Hintergrund als Fantasy war das Western-Genre mit "Boot Hill" (1975). Bald folgten andere Genres – die 3 Musketiere ("En Garde!" [1975]), Science Fiction ("Starfaring" [1976], "Metamorphosis: Alpha" [1976] und "Traveller" [1977]), Horror ("Call of Cthulhu" [1981]), Piraten ("En Garde!" [1975]) und natürlich Militär-Rollenspiele.
Aber auch allgemeine Fantasy-Themen wurden mit Spielen wie "Empire of the Petal Throne" (1975), "Tunnels & Trolls" (1975) und "Chivalry & Sorcery" (1977) bearbeitet.
Schon 1977 war es Zeit für eine grundlegende Revision von "Dungeons & Dragons" und das heute noch erscheinende "Advanced Dungeons & Dragons" kam auf den Markt.

Die ersten Rollenspiele stahlen noch schamlos aus den irdischen Kulturen und bekannten literarischen Vorlagen. "Dungeons & Dragons" Hintergrundband "Gods, Demi-Gods & Heroes" (1980) umfasste Gottheiten des ägyptischen, griechischen, keltischen, nordischen, finnischen, chinesischen, japanischen Pantheos, wie auch Götter der Hindu, der Azkteken, der Maya sowie aus Lovecrafts Cthulhu-Mythos und Elrics Welten von Michael Moorcock.[6] Obwohl das Hauptaugenmerk des Rollenspieles noch auf der Fantasy lag, sah man sich mit dem Abdecken der Fantasy in (fast) allen Spielarten (historische Welten, soweit das Auge reicht, Literatur-Vorlagen, Neu-Erfindungen) bald gezwungen, erneut komplett andere Bereiche für das Fantasy-Rollenspiel zu entdecken. Es erschienen Fantasy-Rollenspiele zu Themen wie Comics (die legendären "Teenage Mutant Ninja Turtles" [1985] sind nur ein Beispiel unter vielen), Cartoons ("Toons" [1984]), Science Fiction-Kampfmaschinen ("BattleTech" [1985]), dem Science Fiction-Genre des Cyberpunk ("Cyberpunk" [1988] und "Shadowrun" [1990]), Krimi/Spionage ("Gangster!" [1979] und "Top Secret" [1980]).
Nicht zu vergessen seien die Umsetzungen von Filmen und Fernsehserien wie "James Bond" (1983), "Dallas" (1980) und "Star Trek" (1982).

Der Siegeszug des Fantasy-Rollenspiels ließ sich ab 1979 nicht mehr stoppen. Mehr und mehr Regelsysteme drängten auf den Markt. Auch in der Spieleindustrie konnten sich mehr und mehr Firmen etablieren, die rein auf Fantasy-Rollenspiele setzten (z.B. TSR, FASA).
Die Auswirkung des Fantasy-Rollenspiels auf den Markt ist nicht zu unterschätzen. Weder sind Filme wie "Labyrinth" (Jim Henson und Brian Froud, 1986) oder "Willow" (George Lucas, 1988) ohne die Prägung des Fantasy-Rollenspiels denkbar, noch die action figures a la "Masters of the Universe" (der Film von Gary Goddard stammt aus dem Jahre 1987).
Die Idee der shared world-Anthologien bei Fantasy und Science Fiction (verschiedene Autoren nutzten eine vorgegebene Welt, um dort Geschichten anzusiedeln; klassische Beispiele sind das von George R. R. Martin betreute Superhelden-Crossover "Wild Cards" und die "Diebeswelt"/"Thieves World" von Robert Asprin) stammt auch aus der Idee der gemeinsamen Schaffung einer Spielwelt im Fantasy-Rollenspiel.

Früh schon vernetzte man die Vermarktung des Fantasy-Rollenspiels mit Zubehör – Würfeln, Figuren, Hintergrundliteratur, sehr bald erschienen auch erste Roman-Reihen zu Fantasy-Rollenspielen. Dies war nur logisch, basierten doch viele frühe Rollenspiel-Welten auf den literarischen Entwürfen einzelner Autoren ("Empire of the Petal Throne" auf den Romanen von M.A.R. Barker, "Stormbringer" [1981] auf dem Ewige Helden-Zyklus von Michael Moorcock und das "Middle Earth Role-Playing" [1984] auf "Der Herr der Ringe" von J.R.R. Tolkien; auch andere Genres des Fantasy-Rollenspiels bedienten sich literarischer Vorlagen, so das Horror-Rollenspiel "Call of Cthulhu" aus den Cthulhu-Geschichten von H.P. Lovecraft).
Die ersten Romane erschienen 1984 zu "Dragonlance", einer "Advanced Dungeons & Dragons"-Welt. Immer noch gut verkäuflich sind die "BattleTech"-Romane zum gleichnamigen Spiel. Die Buchserie hat die Hintergrundinformationen aus Brett- und Rollenspiel längst an Marktanteilen überholt.
In Deutschland setzte man schnell auf Übersetzungen der "klassischen" Rollenspiele – "Call of Cthulhu" [1986 als "Auf Cthulhus Spur"], "Dungeons & Dragons" [1983] und "Traveller" [1985] lagen bald auf Deutsch vor. Dem gegenüber haben sich jedoch zwei deutsche Eigenentwicklungen durchsetzen können. Da ist auf der einen Seite "Midgard" [1981], auf der anderen Seite "Das schwarze Auge" [1984]. Letzteres feierte gerade sein zwanzigjähriges Jubiläum und kann auf über 200 publizierte Titel (Rollenspiel und dazugehörige Taschenbücher) zurückblicken.
Der große Siegeszug des Fantasy-Rollenspiels begann jedoch mit der Einführung der Computerspiele. PC-Spiele wie "BattleTech" sind reine Umsetzungen von Fantasy-Rollenspielen, andere wie "Heroes of Might and Magic" oder die "Ultima"-Serie schöpfen aus der reichhaltigen Bildersprache des Fantasy-Rollenspiels. Momentan sind die "Massive Multiplayer Online Games" – kurz MMOG genannt – groß im Kommen. Spiele wie "Ultima Online", "World of WarCraft" und "EverQuest Online Adventures" ziehen Horden von Spielern an. In den USA verkauften sich von "World of WarCraft" am ersten Verkaufstag 2004 200.000 Spielepakete.[7]
Ein weiteres Kind des Fantasy-Rollenspieles sind die Live-Abenteuer, LARP ("Live Action Roleplaying Games") genannt. Sie sind kurz als eine Mischung als Mittelalter-Markt und Fantasy-Rollenspiel zu beschreiben – kostümierte Rollenspieler simulieren auf einer Burg oder einer ähnlichen Anlage im realistischen Spiel, dem Stegreif-Theater nicht unähnlich, eine Fantasy-Welt.[8]
Die Szene des Rollenspiels hat sich vom klassischen pen & paper-Spiel längst zu den Computerrollenspielen hin bewegt. Fantasy-Rollenspiele haben weiterhin ihren Marktanteil, sind jedoch in den letzten zehn Jahren deutlich hinter ihren beiden Kindern, dem Computer-Rollenspiel und den LARPs zurückgewichen.

4. Zur Wahl der Figuren
Wir Menschen sind auf unsere Sinneserfahrungen, unsere Größe und unseren sozialen Umgang konditioniert. In einem reinen Fantasy-Kampfspiel machte es nichts aus, dass Drachen bessere Panzer und Helden Offiziere waren – die Herleitung des Fantasy-Rollenspiels aus den wargames hatte hier Vorarbeit geleistet. Auch bei "Risiko" denkt niemand darüber nach, dass er sich mit seiner Armee identifizieren könnte.
Aber an einem bestimmten Punkt der Entwicklung wurde die Identifikation der Spieler mit ihren Figuren so hoch, dass sie mehr wollten als reine Kampfregeln. Und es stellte sich als schwierig heraus, einfach so einen Hobbit, einen Drachen oder eine Waldfee als Spielfigur zuzulassen. Zu groß waren die regeltechnischen Probleme, die auftraten (Wie realistisch ist ein Nahkampf zwischen einem Drachen und einem Menschen? Kann mein untoter Ghoul in eine Kneipe gehen, um dort ungefährdet nach Informationen zu fragen? Sollte ein menschenfressender Oger vielleicht doch keinen Kontakt zur örtlichen Polizeistation herstellen? Wie simuliere ich, dass Elfen mit Bäumen kommunizieren?). Man begann daher, Hintergrundbücher zu veröffentlichen, die das Spiel für andere Spielerfiguren als Menschen öffneten.
Alle veröffentlichten Bücher entfernten sich bald von der einfachen Optik und billigen Produktion der ersten Jahre, wurden zu Hochglanz-Produkten mit aufwändigen Zeichnungen.
Damit sie mich nicht falsch verstehen: Von Anfang an gab es im Fantasy-Rollenspiel nichtmenschliche Wesen; doch nur als Nicht-Spieler – als Figuren, die vom Spielleiter gesteuert wurden. Schon bei "Dungeons & Dragons" waren sie nicht mehr als Monster, die hinter verschlossenen Türen lauerten, um Abenteuergruppen in Frühstück zu verwandeln.

Die ersten Jahre des Rollenspiels waren dadurch gezeichnet, dass Schnellschuss auf Schnellschuss folgte, der den gefräßigen Rollenspiel-Markt fütterte. Die Fantasy-Rollenspiele – kaum dem wargame entwachsen – waren noch voll von unlogischen Regeln, hanebüchenen Weltbeschreibungen und schnell und schlicht produzierten Illustrationen. Im Laufe der Jahre kristallisierte es sich heraus, dass es nur vier spielbare Ansätze gab, unterschiedliche Wesen im Fantasy-Rollenspiel zu simulieren.

4.1. Wir sind alles Menschen
Hier gab es keine Schwierigkeiten beim Umsetzen von Regeln, da man davon ausging, dass es sich immer um Menschen (oder stark Menschen-ähnliche Wesen) handelt, die vom Spieler simuliert werden.
Klassische Beispiel sind die meisten auf historischen Vorlagen aufbauenden Rollenspiele (nein, es gab in der Tafelrunde keinen Lindwurm als Ritter) und Spiele wie "BattleTech". Dies, eine Kombination von Brett- und Rollenspiel, setzte normale Menschen in riesige Kampfmaschinen, die – hüpfenden Panzern nicht unähnlich – den Kampfteil übernahmen, während die soziale Interaktion, das eigentlich Rollenspiel, zwischen den Menschen stattfand.
Eine andere Möglichkeit bot das Horror-Rollenspiel. Hier waren die Gegner so mächtig, dass ein Kampf immer dadurch endete, dass die Spieler verloren – wegrennen wurde hier zu einer wichtigen Fähigkeit. Hier gab es (wenige) sprechende Tiere, aber sie waren eigentlich Menschen in Tierkörpern, die wie Menschen agieren (aber anders aussehen).

4.2. Die Biertisch-Regel
Tolkien scheint nach der Devise vorgegangen zu sein: "Was über einen Biertisch schauen kann, das taugt als Held". Seine Figuren auf der guten Seite sind alle grob humanoid, mindestens halb-menschlich; zwar wird ein Hobbit-Elben-Mischling schwierig werden, aber der Unterschied zwischen den einzelnen Rassen war spieltechnisch handhabbar.
Schon Tolkien greift im Grunde auf eine Ansammlung von Stereotypen zurück, um seine Figuren zu charakterisieren. Ähnlich erging es auch den Beschreibungen im Fantasy-Rollenspiel: Hobbits können einen Menschen im Schwertkampf besiegen, aber es ist unwahrscheinlich. Außerdem haben sie haarige Füße und trinken gerne Bier. Zwerge sehen im Dunkeln und lieben Gold und den Bergbau, Elben können toll mit Bogen und Harfe umgehen. Alles Stereotypen, die sich ziemlich einfach in ein Regelwerk umsetzen ließen, und dies auch den Spielern ermöglichten, handhabbare Figuren zu spielen.
In die selbe Klasse der Biertisch-Regel fallen auch Spiele, die völlig auf humanoiden Tieren basieren. Einige entwickeln den Charme von Zeichnungen von Richard Scarry[9] – so z.B. "Albedo".
Die Tiere waren hier jedoch nicht mehr als die aus den Fabeln bekannten Personifizierungen menschlicher Charakterzüge. Es wurde nicht der Versuch unternommen, ihnen tatsächlich eigene Motivationen etc. angedeihen zu lassen. Im Grunde waren sie Menschen im Körper sprechender Tiere, die auch noch aus Spielgründen in eine humanoide Form gepresst worden waren.
Ähnlich wie die sprechenden Enten in Entenhausen verwandelten sie sich in Parodien unserer Gesellschaft, bestenfalls wurden sie zu einer Hommage an die Fabel und "Animal Farm".

4.3. Kampfregeln sind was für Weicheier
Bei dieser Art von Spielen war schon die simulatorische Grundidee so weit hergeholt, dass eine realistische Umsetzung in Regeln nicht erwartet wurde. Alle Superheldenrollenspiele kämpfen mit dem Problem, dass Superhelden eben nicht mal so einfach von der Polizei befragt oder in Kneipen angesprochen werden.
Man löste dieses Problem – wie auch schon in den Comics – durch eine geheime Identität, in welcher der Held normalen Aktivitäten nachgehen kann (und wer als Superheld nicht menschenähnlich war, der konnte sich halt verwandeln). Im Kampf war klar, dass Superhelden so stark sind, dass eine befriedigende Simulation a la "Wie viele Schläge braucht Superman, um eine Backsteinmauer von 30 cm Dicke zu durchschlagen?" nicht gewünscht war. Die Kampfregeln bezogen sich faktisch auf den Kampf Superheld gegen Superheld, normale Widerstände wurden einfach (und problemlos) beseitigt.
Diese Spiele enthielten natürlich auch sprechende Tiere als Superhelden, aber sie wurden als Ansatz nicht ganz ernst genommen. Die Grundannahme hinter diesen Spielen war schon so irrwitzig, dass jede weitere Abweichung von der menschlichen Norm nicht weiter ins Gewicht fiel.

4.4. Es klang wie eine gute Idee ...
Die vierte Gruppe von Rollenspielen ist jene, die versucht, wirklich innovativ neue Figuren herzustellen. In einigen Fällen – wie bei "Skyrealms of Jorune" [1987] ist das gut gelungen, weil der Hintergrund optisch wie erzählerisch gut geschildert ist. "Traveller" ist denselben Weg gegangen: üppige Beschreibungen von Fremdrassen, hervorragende Illustrationen, gute Hintergrundtexte.
So war es möglich, diese Figuren glaubhaft darzustellen, wenn man sich die Arbeit machte, sich in den Hintergrund einzulesen. Gerade dieses dürfte den normalen Spieler aber überfordert haben, der sich nicht in den Verdauungstrakt einer Fremdrasse einlesen will, bevor er an einem Spiel zur Jagd auf einen Weltraumpiraten teilnehmen kann.
"Traveller" war – und ist – seiner Zeit voraus. Hier war die Menschheit nur eine von vielen raumfahrenden Rassen, und Wesen von der Erde waren vor Urzeiten im Weltraum ausgesetzt worden, wo sie eigene Zivilisationen bildeten (neben den Menschen auch die Hunde ...). Zusätzlich gab es mindestens vier gut ausgearbeitete Fremdrassen, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Krakenartige Pflanzen mit eigenartigen Fortpflanzungsritualen, Zentauren-artige Gruppenlebewesen, Löwen-mähnige Krieger und Mini-Drachen mit obskurem Sozialsystem.
Leider leidet die Spielbarkeit von solchen Figuren daran, dass sie oft viel zu weit von unserer Menschheit entfernt sind. Ein Hobbit ist – Entschuldigung – ein kleiner Mensch mit haarigen Füßen, der gerne Pfeife raucht. Ein Elbe ist ein schlanker Mensch, der uralt werden kann, mit Bäumen spricht und ohne Bogen nicht verreist. Aber jede weitere Entfernung vom Grundkonzept irdischer Kulturen führt dazu, dass die Spieler große Schwierigkeiten haben, ihre Figur und das Spielgeschehen unter Kontrolle zu halten – vom Spielleiter mal ganz abgesehen, der mit einer Rollenspiel-Gruppe aus fünf Leuten, von denen einer im Dunkeln sehen kann, einer Röntgenaugen hat, einer wegen seiner vier Arme zwar toll Schwert kämpfen kann, aber überall auffällt, einer jeden Morgen und Abend der Göttin des Todes ein Kind opfern muss und einer alle drei Wochen in sexuelle Raserei verfällt, Schwierigkeiten haben dürfte.
In seltenen Fällen gelingt diese Umsetzung. Ein Trick ist es, relativ unterschiedliche Spielerfiguren zuzulassen, dabei aber möglichst wenig am sonstigen kulturellen Hintergrund zu verändern. Ein schönes Beispiel ist "Castle Falkenstein" [1994]. Hier kann man Drachen, Zwerge, Menschen und Feen spielen; jede Rasse ist mit einem reichen Hintergrund an Informationen ausgestattet. Dafür ist die Welt mit der unseren (bis auf ein paar Kleinigkeiten, die weitere Existenz von Norddeutschland und den Niederlanden betreffend) identisch.

5. Zusammenfassung
Nach einer tour de force durch Aufbau, Entwicklung, Geschichte und Markt der Fantasy-Rollenspiele kommen wir jetzt zu einer Zusammenfassung.
Sprechende Tieren: Ja. In Rollenspielen, die einen hohen Anspruch an Spieler und Spielleiter stellen, tauchen sowohl bekannte Tiere wie hybride Neuschöpfungen und Neuerfindungen auf. Neben dem bekannten Märchenkabinett (Drachen, Zwerge etc.) gibt es Neuschöpfungen von beachtlicher Innovationshöhe. Es gibt sie tatsächlich: Die gut simulierten, gut dargestellten sprechenden Tiere im Fantasy-Rollenspiel.
Doch das Fantasy-Rollenspiel befindet sich von seinen Marktanteilen her auf dem Rückzug. Sammelkartenspiele (wie das leidige "Magic"), PC- und Internet-Spiele haben die Elemente des Fantasy-Rollenspiels aufgenommen und bedienen sich aus ihrem Bilderreichtum.
In den letzten Jahren geht die Entwicklung vom einzelnen Rollenspiel, das nur ein Segment, eine Welt beschreibt, hin zu universellen Regeln, die ein Grundsystem bieten, das mit Modulen für einzelne Kulturen ausgebaut wird.
"GURPS" ("General Universal Roleplaying System") ist das Beispiel für diese Entwicklung. Hier entstehen, auf einer Regelplattform, immer neue Zusatzbände, die einzelne Welten schildern.[10]
Sprechende Tiere: So weit das Auge reicht. Wenn man bereit ist, sich auf das Rollenspiel einzulassen, kann man als sprechendes Tier in einer Menge Welten viel Spaß erleben. Aber ich glaube, dass das Fantasy-Rollenspiel – trotz seines weiterhin vorhandenen Marktanteils, trotz der Rollenspiel-Treffen, der Spezialläden, der unterschiedlichen Anbieter – einen Kampf führt, den es nicht gewinnen kann. Computer und Internet haben den Markt übernommen, Live-Rollenspiel und Sammelkarten viele Interessenten weggelockt, so dass der Markt für Fantasy-Rollenspiele sich in den nächsten 20 Jahren weiter verkleinern wird.
Schade eigentlich, weil das macht mich zum Teil einer Minderheit, die einem Hobby anhängt, das einen eigenartigen Ruf genießt. Aber so war es 1985 auch schon, wo man als Fantasy-Rollenspieler in der Meinung der Öffentlichkeit irgendwo zwischen Satanisten und Automaten-Süchtigen stand. Es war (und ist) eine schöne Nische – und eine sehr bunte noch dazu. Nur Mut beim Ausprobieren!

Quellen
• Franke, Jürgen & Werner Fuchs (Hrsg.) "Knaurs Buch der Rollenspiele", München, 1985
• Jackson, Steve (Hrsg.) "Murphy’s Rules and Other Strange Stuff from Space Gamer", o.O., 1988
• Kaiser, Ulrich (Hrsg.) "Das große Buch der Fantasy-Rollenspiele", Meitingen, 1984
• Kathe, Peter "Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen", Karben, 1987
• Mai, Reinhold H. & Christoph Nick "Battletech – Die Welt des 31. Jahrhunderts", München, 2002
• Nagel, Rainer "Fachsprache der Fantasy-Rollenspiele", Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1993
• Ritter, Hermann "Fantasy-Rollenspiel als Therapie" in R. Gustav Gaisbauer (Hrsg.) "Der Zweite Kongreß der Phantasie", Passau, 1989
• Ritter, Hermann "Romanwelten und Rollenspiele" in "Wunderwelten 20", Düsseldorf, 1994
• Ritter, Hermann "Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen – neue Formen der Gruppenarbeit?" (Diplomarbeit), Darmstadt, 1988
• Schick, Lawrence "Heroic Worlds – A history and guide to role-playing games", Buffalo/New York, 1991
• Swan, Rick "The Complete Guide to Role-Playing Games", New York, 1990

• "Notes on the Encyclopedia of Role-Playing Games" www.darkshire.net/~jhkim/rpg/encyclopedia/notes.html
• "The Museum of Role Playing Games" rdushay.home.mindspring.com/Museum/Index.html

• Ritter, Hermann "Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen – neue Formen der Gruppenarbeit?" www.rpgstudies.net/ritter/struktur.html


  1. In Auszügen als "Fantasy-Rollenspiel als Therapie" in Gaisbauer (Hrsg.) "Der Zweite Kongreß der Phantasie" erschienen.
  2. Swan, S. 7 f.
  3. Nach Schick, S. 10
  4. Schick, S. 1
  5. Prinzipiell dazu Kathe, S. 13
  6. vgl. Schick, S. 143. "The first printing of Deities & Demigods included the mythoi of Cthulhu and Melnibone. The ideas behind the Cthulhu mythos were in the public domain at that time, but copyright on the Cthulhu books in print was owned by Arkham House, who had licensed Chaosium to create a Cthulhu RPG based on those books. TSR thought the public domain status allowed them to create game representations of whatever Cthulhu creatures they desired, and so that mythos was added to Deities & Demigods. TSR then contacted Michael Moorcock, who gave permission for TSR to include the Melnibonean mythos in Deities & Demigods. However, again, Chaosium had already arranged for a license to create an Elric RPG.
    Chaosium became upset that TSR was apparently violating Chaosium’s licenses, and the print run of Deities & Demigods was halted while the two companies sat down to talk. Eventually, they agreed that TSR could continue printing the books with the two mythoi as is, on the condition that a note be added to the preface: ‘Special thanks are also given to Chaosium, Inc. for permission to use the material found in the Cthulhu Mythos and the Melnibonean Mythos.’ The printing plates were changed, and the first printing continued.
    When the time for a second printing came, the Blume brothers decided that a TSR book should not contain such a prominent reference to one of their competitors. They decided to remove the two mythoi, and thus the need for the note. (…).
    Legends & Lore has identical contents to Deities & Demigods; the cover artwork was updated in-line with the other 1983 AD&D manuals, and the title was changed to avoid potential conflicts with fundamentalist Christian groups." (www.acaeum.com/DDIndexes/SetPages/Deities.html)
  7. nach www.kino.de/newsvoll.php4?nr=167484
  8. Das beste Magazin zum Thema dürfte zur Zeit die LARPzeit sein, über die man sich auch im Internet unter www.LARPzeit.de informieren kann.
  9. vgl. www.rotten.com/library/bio/authors/richard-scarry/
  10. vgl. www.sjgames.com