Rückkehr zum Mittelpunkt der Erde

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MIKE ASHLEY UND ERIC BROWN (HRSG.)
RÜCKKEHR ZUM MITTELPUNKT DER ERDE
THE MAMMOTH BOOK OF NEW JULES VERNE ADVENTURES (2005)
Übersetzung: Beke Ritgen, Winfried Czech, Dietmar Schmidt, Marianne Schmidt, Michael Ritz und Gerhard Arth
Titelbild: Geoff Taylor
Bastei-Lübbe 20548, 635 Seiten

Der Untertitel »Neue Jules-Verne-Geschichten« und der englische Titel THE MAMMOTH BOOK OF NEW JULES VERNE ADVENTURES sagen eigentlich schon alles aus: Es geht um Vernes hundertsten Todestag, zu dem diese Geschichten (mit zwei Ausnahmen, die ein wenig älter sind) geschrieben worden sind. Viele der Geschichten sind keine reine Fantasy, sondern Mischformen mit Science Fiction oder gar Horror. Trotzdem kann man dieses Buch (bedingt) Fantasy-Fans ans Herz legen.
Zum Buch: Zu jeder Geschichte gibt es eine kurze Einleitung der Herausgeber, welche die Handlung in den Verne-Kontext einfügt. Vorher steht eine – ziemlich langweilige – Einführung, am Ende kommen Biographien der Autoren.
»Der Minister auf den Schienen« von Stephen Baxter eröffnet die Sammlung. Der junge Jules Verne hat sein erstes Abenteuer und rettet den Premierminister vor einem Zugunglück.
»Der Weg des Jehan Thun« von Brian Stableford ist eine Fortsetzung des Verne’schen Romans MEISTER ZACHARIUS. Gekonnt routiniert schildert Stableford einen vom Schicksal getriebenen, der versucht, in einer technikfeindlichen Welt, die vor der Aufklärung angesiedelt ist, etwas technisches (hier: eine Uhr) zu bauen.
»Sechs Wochen im Ballon« von Eric Brown beschreibt die wahren Erinnerungen eines der Mitreisenden aus FÜNF WOCHEN IM BALLON, die dieser dem Schriftsteller George Orwell schildert (der aber in dieser Parallelwelt 1930 wohl eher Eric Blair hätte heißen müssen).
James Lovegroves »Londres au XXIe Siècle« (eine Fortsetzung von PARIS IM 20. JAHRHUNDERT) ist ein Fragment – die Seiten 3-5, 17-18, 49-50, 84-85, 120-121, 137-138, 169-171 und 203-205 eines angeblich größeren Werkes. Leider macht diese Erzähltechnik das Fragment fast unlesbar. Schade.
Ian Watsons »Riesenhafte Zwerge« und Peter Crowthers »Geschichten aus dem Land am Ende eines Arbeitstages« zollen REISE ZUM MITTELPUNKT DER ERDE Tribut. Erstere Geschichte vereinigt eine viktorianische Expedition, ein Zeitparadox und Nazis unter der Erde. Die zweite Geschichte ist scheinbar Teil eines Geschichten-Zyklus um die Kellerbar »Das Land am Ende eines Arbeitstages« (auf Deutsch ist davon bis jetzt nichts erschienen). Dies ist eine der flüssigsten Geschichten im Buch – im doppelten Sinn. Es geht um eine jener Kneipen, in denen alles möglich ist – und so kommt man auch, wenn man im Besitz der richtigen Pergamente ist, durch den Keller direkt auf den Weg zum Mittelpunkt der Erde.
Mit »Die wahre Geschichte über Barbicanes Reise« schildert Laurent Genefort eine andere Sicht der Bücher VON DER ERDE ZUM MOND und UM DEN MOND herum. In Wirklichkeit waren die Reisenden auf dem Mond und sind dort einer Seleniten-Kultur begegnet, die weiter ist als die Menschen. Erst das Studium von H.G. Wells Die ersten Menschen auf dem Mond veranlasst einen der Überlebenden, die wahre Geschichte zu veröffentlichen (besonders in Anbetracht dessen, dass sich die geschilderten Erlebnisse mit denen aus Wells’ Roman decken). Barbicane aus jenen Romanen ist auch der Held von Stephen Baxters »Columbiad«. Aber dieses Mal ist der Mars das Ziel – und die Geschichte ist ein wenig unverständlich. Nett, dass wieder Wells eine Rolle spielen darf, aber der Endgag (den ich hier nicht verraten mag) lässt sich aus der Geschichte heraus nicht erahnen und ist eher platt.
F. Gwyplaine MacIntyre schildert in »Tableaux« den Besuch von Verne in New York, bei dem ein Beobachter aus der Zukunft immer wieder zu eigenartigen Phänomenen in Vernes Umgebung führt. Naja, ganz lustig.
Nemo gehört zu Vernes’ bekannteren Schöpfungen. So nimmt sich Michael Mallory in »Das Geheimnis der Nautilus« dieses Mythos an. Eigentlich ist es ein Rundumschlag, der Robur und Leonardo da Vinci einschließt. Eine schöne Geschichte, nicht wirklich zum Kanon passend, aber eine schöne Geschichte.
»Doktor Bull mischt sich ein« von Keith Brooke schildert einen Wissenschaftler, der durch Nahrungsbeigaben eine lethargische Computerwelt (die unserer Welt sehr ähnelt ...) aufmischt. Eine schöne Satire, die voll ins Schwarze trifft.
IN ACHTZIG TAGEN UM DIE WELT ist die Blaupause für »Der allererste Fall« von Johan Heliot. Leider ist die Geschichte nur dazu da, um Passepartout – Foggs Diener – als Superhelden darzustellen, der Fogg/Moriarty und Gestalten wie Fu Manchu jagt, die alle »Brüder « aus Parallelwelten sind. Aber Passepartout ist ja auch Fandor und Sherlock Holmes ... Aaaargh. Den selben Roman nehmen sich Kevin J. Anderson und Sarah A. Hoyt in »Achtzig Briefe und ein weiterer« vor. Täglich schreibt Mr. Fix seiner Frau einen Brief von der Verfolgungsjagd um den Globus – nur um am Ende von seiner Frau verlassen zu werden, die er fast drei Monate wegen einer hanebüchenen Verfolgungsjagd um den Globus alleine ließ.
»Die Liga der Abenteurer« von Justina Robson ist für mich eine der schönsten Geschichten im Buch. In einer Cyberpunk-Welt der Zukunft versucht ein Reporter einen Artikel über die Rechte von künstlichen Wesen zu schreiben, während er mit einer Hybridwesen-Gruppe konfrontiert wird, die sich lose von Vernes Werken inspirieren lässt. Ich muss zugeben, dass diese Kurzbeschreibung wahrscheinlich nicht viel über die Geschichte verrät, aber eigentlich hat sie auch wenig zu bieten – nur eine poetisch schöne Sprache, fantastische Bilder und eine geniale Auflösung.
Als Fortsetzung zu HECTOR SERVADAC bietet Adam Roberts »Hector Servadac (Junior) «. Schon das Original um ein Stück Erde, das sich löst, ist schwer zu glauben, aber diese Geschichte über einen Nachfahren Servadacs, der von Visionen geplagt wird, die der Erde ein ähnliches Schicksal voraussagen wie jenem Erdfragment, auf dem sein Vorfahr gefangen war, ist mehr als hanebüchen. Aber sie ist schön geschrieben – und der Stil ist fantastisch. Ich zitiere kurz das Ende: »Aber er blieb immer noch auf der Veranda stehen, und überall um das Haus, in alle Richtungen gab es nur den Nebel, als ob die Ranch von Perlmutt eingeschlossen sei.« Wer Stil vor Handlung wählt, ist hier gut beraten.
DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL und andere Werke Vernes finden eine Verbindung zu Robur in »Die mysteriösen Iowaner« von Paul Di Filippo. Mit Hilfe von Nemos Erfindungen entsteht ein Superstaat im Herzen der USA, welcher die Menschheit in großen Schritten voranbringt. Gesteuert wird das ganze von einer (im geheimen) homosexuellen Oberschicht, die ihre Veranlagung vor der Öffentlichkeit verbirgt, die wohl dafür noch nicht reif genug ist.
Tim Lebbons »Altes Licht« ist eine auf technischen Geräten aus DAS KARPATENSCHLOSS aufgebaute, wunderschön melodramatische Liebesgeschichte.
Der Baltimore Gun Club ist der Hintergrund für »Die Gesellschaft der Mondgärtner« von Molly Brown. Sie handelt von der Terraformierung des Mondes mit – na ja – Gartenabfällen. Lustig würde ich sagen, aber das ist schon abfällig im Ansatz.
Ein Krimi, eine Abhandlung über »Was ist eine Frau?« und »Was ist ein Mensch?« ist »Eine Frage der Mathematik« von Tony Ballantyne. Hier sind es auch die Folgen des Verneschen Gedankenexperiments, durch einen Kanonenabschuss die Erdachse zu verändern, die – auf das britische Weltreich als Täter umgemünzte – Klimakatastrophe via Kanone hin zielen. Auch hier gilt: Eine schöne Geschichte, die gekonnt Kritik an der Umweltverschmutzung mit Vernesschen Stukkaturen mischt.
Cthulhu lässt in »Das Geheimnis der Sahara« von Richard A. Lupoff grüßen. Nach dem Überfluten der Sahara in Vernes’ DER EINBRUCH DES MEERES wird a la Lovecraft eine Insel freigespült, die Überreste einer uralten, chtonischen Zivilisation enthält.
DIE JAGD NACH DEM METEOR ist der Hintergrund für eine platte, auf Wells zurückführende Zeitreisestory namens »Die Jagd nach dem Goldenen Meteor« von Sharan Newman. Die Welt wird nicht besser, wenn man die Vergangenheit verändert. Gähn.
Wilhelm Storitz’ Geheimnis wird in »Die wahre Geschichte des Wilhelm Storitz« von Michel Pagel mal wieder mit Wells – hier DER UNSICHTBARE – verquickt. Zeitreise-Ebenen- Anspielungen-Quatsch.
»Das schwimmende Hotel« von Liz Williams ist nicht von einem einzelnen Buch Vernes’ inspiriert, sondern eher von seinem Lebenswerk (und Captain Nemo). Eine zutiefst traurige Geschichte, die gefällt.
Einige Übersetzungsfehler sind ärgerlich. So »Kapitän Marvel« statt »Captain Marvel« (S. 140), die »Thompson-Zwillinge« aus »Tim & Struppi« (S. 153) – die beiden Polizisten heißen auf Deutsch Schultze & Schulze - und der EDDA-Autor, der hier wahlweise zu »Snorro Sturleson« (S. 178) oder »Turleson« (S. 182) wird – dafür entgeht einem das schöne Wortspiel »Im Zeichen des Snorro« (S. 183) nicht.
Trotzdem: Ein nettes Buch, das man als Lesefutter auf langen Zugfahrten nutzen sollte. Ich empfehle den Mut, einige Geschichten zu überblättern!