Social Sorcery

Aus hermannritter.de
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Als ich anfing, wissentlich Fantasy zu lesen, schwappte gerade die Welle der (schon einige Jahrzehnte älteren) "Sword & Sorcery" über uns hinweg. Die Texte lesen sich heute noch gut, wenn man willens ist, über stilistische Mängel hinwegzusehen:
Mit einem gewaltigen Sprung landete Crumor auf dem Rücken des wild gewordenen Buzangos. Mit stahlhartem Griff fasste Crumor unter die Hornplatten am Hals des Tieres. (…) Der Buzango versuchte nun, Crumor von seinem Nacken zu werfen. Immer wieder warf er seinen Oberkörper empor, doch Crumors stahlharter Griff ließ nicht locker. (…) Ermattet sank das Urwelttier zusammen. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung sprang Crumor in den vom Blut vieler Kämpfe geröteten Sand der Arena. (…) Die Prinzessin sank in seine Arme.[1]
Glücklicherweise wurden wir älter und fingen an, unseren Lesehorizont auszuweiten. Von der "Sword & Sorcery" aus gab es zwei Leserichtungen, die man wählen konnte. Die eine führte in die Vergangenheit, in die Gefilde der Klassiker. Diese Leserichtung gabelte sich bald. Auf der einen Seite gab es jene Werke, die man nicht umsonst "High Fantasy" nannte:
Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Das Haus des Grafen Crumor lag vom Wegesrand kaum erkennbar hinter einer dichten Reihe aus Ulmen. (…) Er legte prüfend den Kopf in den Nacken. Die Wolken waren regenschwanger. Er musste das Haus erreichen, bevor der kalte Regen den Aufenthalt im Hochmoor noch unangenehmer machen würden. (…) Er war sich nicht sicher, ob die wenig einladende Silhouette des alten Herrensitzes der richtige Aufenthaltsort für ihn wäre. Ein einzelner, eiskalter Regentropfen machte ihm die Entscheidung einfacher.[2]
Die andere Seite führt weg von den Autoren, die man heute als die "großen, alten" Autoren bezeichnen könnte, hin zu den Autoren der "großen Alten":
Die verschlungenen Runen auf dem von Grünspan überzogenen Griff des uralten Dolches schimmerten eigenartig im fahlen Licht des aufgehenden Mondes. Als würde eine alte, unheilige Macht sie mit einem pulsierenden, flackernden Licht rufen, um sie in jenes verruchte Leben zurückzurufen, aus dem sie dereinst nur die Macht von Magister Crumor verbannen konnte. (…) Er lauschte. Er lauschte. Der Wind schien eine Melodie zu tragen. Ein überirdisch schönes Lied, wie er es noch nie gehört hatte. Doch –halt! Er hatte diese morbilde Klangfolge schon einmal mit eigenen Ohren gehört. Sie war zu der Beerdigung der debilen Lady McMacintosh erklungen, als der blinde, verwachsene Sackpfeifer in der moosbewachsenen Kapelle aufgespielt hatte.[3]
Man wird älter. Das Leseverhalten ändert sich. Und der Blick geht nach vorne. Irgendwann entdeckt man dann, dass im Kielwasser (manche sagen eher: Brackwasser) von "New Worlds" eine neue Fantasy herangereift war:
"Ich kenne dich nicht! Du bist nicht von meinem Blut. In deinen Händen wird Seelenmampfer nicht wirken."
"Schaue genau her, Drondric! Erinnerst du dich nicht?"
Prüfend lag der Blick des schwulen, zuckerkranken, einbeinigen, farbenblinden Albinos mit Migrationshintergrund auf der verwachsenen Figur, die ihm am Rande der Schicksalsklippen gegenüber stand. Für einen Moment flackerte so etwas wie Erkennen über seine Retina, bevor er beherrscht den Kopf schüttelte. "Nein, ich kenne dich nicht."
Die Gestalt in dem rosafarbenen Mantel lachte. "Ha! Du kennst mich auch nicht in diesem Körper. Als du mich kanntest, hatten die Götter der Ordnungsliebe noch nicht ihre Hand auf mich gelegt. Als du mich kanntest, war ich deine Cousine Crumora … nun schau mich an!" Sie warf den Mantel ab. (…)
Der Albino ließ den Blick weiter über ihren Körper schweifen, auf dessen Haut die uralten Tätowierungen der Ordnungsliebe zu sehen waren. "Nein …", kam es nur noch über seine Lippen.[4]
Ach, waren das noch Zeiten. Seitdem durften wir nur erleben, wie die Werke länger wurden. Dankbarerweise hatten wir in den 80er Jahren nicht gemerkt, dass die absoluten Brenner auf Deutsch deswegen so gut waren, weil man sie um mindestens 25 % Prozent gekürzt (lies: entschlackt) hatte. Sogar die ersten Übersetzungen von MZB waren lesbar, wenn sie … anderes Thema.
Dann kam die Gegenwart (also: die letzten 20 Jahre) und auf einmal trat ein Phänomen hervor, dass ich nur als "Social Sorcery" bezeichnen kann:
Stephen Crumor schlich leise die Stiege zum Dachboden hinauf. Er hoffte inständig, dass seine Tante Petulia nicht wach würde. Ihre nörgelnde Stimme, ihre andauernden Verweise auf seine Eltern, die bei einem nicht ganz geklärten Unfall mit einem herabfallenden Klavier ums Leben gekommen waren, ohne zwei vernünftige Versicherungspolicen zu hinterlassen, raubten ihm auch sonst den letzten Nerv. Und noch weniger durfte ihr Mann wach werden, sein Onkel Cecil, den er nie nie niemals Stiefvater nennen würde. Cecil war nicht nur ein Trinker, sondern er hatte mehrere Male schon versucht, Stephen beim Umkleiden heimlich zuzusehen. Und er hatte Angst davor, mit diesem schwitzenden, gewalttätigen Mann alleine zu sein. (…) Leise setzte er den anderen Fuß auf. Diese Nacht würde er wenigstens von seinem Cousin Peter Ruhe haben. Seit dem dieser mitbekommen hatte, dass es den Ring von Clevendile, den Stift von Oppenzopp, das Schwert der Güte, die Lilie der Gesundung, das Tuch der endlosen Blutung, den Käse der Unsichtbarkeit und das Gleitöl der Erregung wirklich gab, war er nicht davon abzubringen, seinem Cousin heimlich beim Kampf gegen Earl Jörl und den üblen Doktor "Dickerchen" Dactylus zu helfen. Und das konnte nur Ärger bedeuten![5]
Und dann wundert sich ein Mensch, wenn ich wieder zurück will zu Crumor in die Arena?

Egal. Viel Spaß mit diesem MAGIRA.



  1. CRUMOR, DER ARENAKÄMPFER, S. 56 f.
  2. DAS HAUS UNTER DEN ULMEN, S. 236
  3. DER BANALE FLUCH DES BLINDEN SACKPFEIFERS, S. 36
  4. DIE ZIEMLICH GROSSE ZITADELLE AN DER GLITZERNDEN KÜSTE KURZ VOR DEM ENDE DER WELT, SCHARF LINKS (Band 8 der Trilogie um SCHMATJA, DAS SCHMELZENDE LAND), S. 359
  5. STEPHEN CRUMOR UND DAS FEUERPFERD AUS DER MUNKEL BAY (STEPHEN CRUMOR VII), S. 1029 f.