Sprachveränderungen

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Schlaraffen hört!

Ich beschäftige mich profan mit Menschen, die Jugendliche betreuen. Früher habe ich mit Jugendlichen direkt gearbeitet, aber jetzt nicht mehr. Das hat immerhin den Vorteil, dass ich nicht länger Sätze bilden muss, welche die Kernvokabeln "Alder", "kongred" und "Scheißendregg" enthalten. Aber die Menschen, mit denen ich arbeite, haben ähnliche Probleme mit dem Verwenden ihrer eigenen Sprache oder Begrifflichkeiten.
Es sollte klar sein, dass Sprache sich im Laufe der Zeit verändert. Jede Generation fügt einer Sprache neue Worte hinzu und lässt alte fallen. Oder Worte kommen in neuer Betonung oder gar Bedeutung wieder, verändern sich und ziehen einen neuen Bedeutungsmantel an.
Die kulturellen Referenzen, also das, was wir an Bezügen zitieren, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Während unsere Vorfahren vor hundert Jahren aus Oper und Klassik zitieren konnten und dies auch über Anspielungen taten, so sind es heute – Platos Höhlengleichnis nicht unähnlich - andere kulturelle Referenzen, die wir verwenden.
Und natürlich prägt die Lebenswelt, die eigene Erfahrung Sprache und die verwendeten Bilder. Meine schon mehrmals zitierte Großmutter neigte zu zwei Sprachmustern, die ich – umso älter ich werde – bei mir und meiner Generation wiederfinde.
Das erste ist der Hinweis bei übriggelassenen Essensresten auf – Verzeihung – hungernde Negerkinder. Meine spätpubertären Hinweise darauf, dass ein Versand dieser Nahrung in die entsprechenden Gebiete Zentral- und Südafrikas – Transsahel würde man heute sagen – alleine am Missklang zwischen Versandzeit und Frischestatus scheitern würde, verhallten klanglos. Glücklicherweise blieben meiner Großmutter die Schwanengesänge der Post erspart. Wenn die Post in Afrika wie die deutsche Post funktioniert, würde man nämlich beim Absenden der Essensreste versprochen bekommen, dass die Post in zwei Tagen da sei. Ab Tag vier könnte man dann am Zielort mit Zustellung rechnen. Der Zusteller schleicht sich an Tag 5 an, wirft einen Zettel ein, dass man leider nicht da war, und darauf steht, dass die Lieferung frühestens ab Tag 7 im Zentralpostamt in Lumumba abgeholt werden kann. Also kein Versand von Essensresten. Aber die Verwendung dieser Formel in meinem Leben scheitert nur daran, dass ich keine Essensreste mehr versenden würde, wobei hier ökonomische und ökologische Faktoren eine Rolle spielen, nicht mein Unwille, die hungernden Teile der Weltbevölkerung zu bewirten.
Die zweite ständige Redewendung meiner Großmutter war das "Wir hatten ja nix" einer unter Wilhelm II. aufgewachsenen Generation. Diese Aussage bezog sich aber selten auf reinen Besitz, sondern auf Lebensumstände, die ihr Leben viel schwerer machten als meines je werden könnte. Hakte man dann nach, so erhielt man Hinweise wie den auf einen beschwerlichen Schulweg, der prinzipiell in Holzschuhen, über mehrere Meilen hinweg, ständig bergauf, gegen den Wind und bei Schneesturm in dunkelster Nacht zu bewältigen war. Ich bin den Schulweg meiner Großmutter später abgegangen, um herauszufinden, ob der nur für meine Großmutter und Reinhold Messmer gangbar wäre. Er war ohne Atemmaske in weniger als zehn Minuten zu bewältigen. Aber auch die normative Kraft des Faktischen und die arrivierten Daten hielten meine Großmutter nicht davon ab, diese Mythen weiterzuverbreiten. Ebenso konnte sie über Telefon und Fax, schnittige Autos, Kreuzfahrtschiffe, Flugzeuge allgemein und Dosenobst herziehen, wobei ihr erreichtes biblisches Alter von über hundert Jahren bei der weniger historisch geprägten Zuhörerschaft auch Ausführungen a la "Wir hatten ja nix" über Papier, Gummi oder die Existenz einer kugelförmigen Erde, auf deren Außenseite wir leben, erlauben würden. Sprich: Wenn meine Großmutter darüber geredet hätte, dass sie bei Kerzenlicht in ihrer in einer Höhle untergebrachten Schule mit dem Griffel Worte in Altgotisch in eine Wachstafel kratzen musste, um nicht von dem als Schullehrer nebenher arbeitenden römischen Zenturio damit bedroht zu werden, den Möwen zum Fraß vorgeworfen zu werden, so hätte es sicher in der RTL 2-Generation Zuhörer gegeben, die ihr das geglaubt hätten – die glauben aber auch, dass es sich bei "Fackeln im Sturm" und "Die Wanderhure" um historische Klassiker handelt.
Zurück zu mir und meinen Kollegen. Manchmal erwischt man sich dann doch dabei, dass man Muster übernimmt, die man sich schwor nie zu übernehmen. Dieses "Wir hatten ja nix" gehört dazu, wenn Menschen – meistens sind es Männer – meiner Generation darüber ablästern, dass wir als junge Leute ja nix hatten – kein Handy und keinen Computer. Wenn wir uns verabreden wollten, dann mussten wir sprechen (im Sinne von "Angesicht zu Angesicht") und uns an vereinbarte Termine halten. Es gab Kinos, keine DVDs und schon gerät man in das Schwärmen von Betamax, Video 2000 oder VHS. Von wegen Filme – das Fernsehen war eine Katastrophe. Wer kennt denn heute noch das lustige Testbild oder die nächtlichen Sendungen mit Eisenbahnfahrten quer durch den Schwarzwald. Und überhaupt hatten wir nur drei Programme – und die erst ab 15.00 Uhr.
Ein wenig höre ich dann wieder meine Großmutter in ihren Holzschuhen den Hang zur Schule raufgehen, nachts, gegen den Wind und im fiesesten Schneegestöber.

Lulu!